Bielefeld und die entfesselte Kamera

Das Murnau- und Massolle-Forum in Bielefeld

Foto: Judith Büthe

Jahrhundertelang war Bielefeld ein Zentrum für die Herstellung von Leinentuchen, früher oft „Leinwand“ genannt. Doch auch wer bei dem Wort zuerst an die Welt der Lichtspiele denkt, ist in der Stadt an der richtigen Adresse: Zwei bedeutende Pioniere des Kinos waren gebürtige Bielefelder, der Stummfilmregisseur F.W. Murnau und der Miterfinder des Tonfilms Joseph Massolle. Ihnen verdankt das MuMa seinen Namen, das Bielefelder „Murnau- und Massolle-Forum“. Es wurde jüngst mit viel ehrenamtlichem Engagement und cineastischem Sachverstand als Ausstellungs- und Begegnungsort für Kinoträume aus Technik und Phantasieeröffnet.

Unsere Geschichte beginnt im Jahr 1888, dem Dreikaiserjahr, in dem mit Wilhelm II. der letzte Monarch des Deutschen Reichs den Thron bestieg. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern Wilhelm I. und Friedrich III., die kurz nacheinander verstarben, kennt man den zweiten Wilhelm nicht nur aus dem Geschichtsbuch, sondern auch von vielen bewegten Bildern. Möglich wurde das durch den 1887 erfundenen Zelluloidfilm und die seit den 1890er Jahren darauf aufbauende Kinotechnik – Entwicklungen, die zugleich das Leben eines Mannes prägten, der kurz vor dem Ende des Dreikaiserjahrs am 28. Dezember 1888 geboren wurde. Friedrich Wilhelm Plumpe, der Sohn einer Bielefelder Tuchfabrikantenfamilie, sollte im wahrsten Sinne des Wortes Leinwandgeschichte schreiben.

Der Knabe in Blau

Die künstlerischen Interessen Plumpes deuteten sich schon in dem Pseudonym an, das er seit etwa 1910 verwendete: F. W. Murnau. Er wählte es aufgrund seiner Kontakte zur Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“, die sich gern im Haus der Malerin Gabriele Münter im bayerischen Murnau am Staffelsee traf. Bedeutende Expressionisten waren dort zu Gast, darunter der in Bonn lebende Maler August Macke. Murnau selbst kam hingegen von der Bühne. Er hatte seine Schülerjahre in Kassel erlebt, wohin die Familie 1892 gezogen war, und später in Berlin und Heidelberg studiert. Der legendäre Theatermann Max Reinhardt entdeckte ihn bei einer studentischen Aufführung als Schauspieler und übertrug ihm bald zudem Aufgaben als Regieassistent. Nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich Murnau dann dem Film zu. Leider gilt sein 1919 gedrehtes Debüt „Der Knabe in Blau“ als verschollen. Gerade aus NRW-Sicht ist das bedauerlich, spielte der Erstling doch vor der malerischen Kulisse der Wasserburg Vischering in Lüdinghausen, eines baulichen Wahrzeichens des Münsterlands.

Murnaus Genie zeigte sich nicht zuletzt im Zusammenwirken mit Karl Freund, dem Erfinder der „entfesselten Kamera“. Simple Schwenks genügten letzterem nicht, seine Aufnahmen sollten auch umherwandern, emporsteigen, niedersinken oder gar torkeln. Doch was heute per Drohne schnell zu bewerkstelligen ist, erforderte früher viel Aufwand und Improvisationskunst: Kameras mussten dafür auf Wippen, Fahrräder, Kräne und Seilzüge montiert oder vor die Brust geschnallt werden. Der 1924 von Murnau und Freund gedrehte Film „Der Letzte Mann“ gilt als Meisterwerk der entfesselten Kamera. Gefeiert wurden aber schon frühere Murnau-Filme wie etwa „Nosferatu“, die „Symphonie des Grauens“. Der Regisseur bekam schließlich sogar ein Angebot aus Hollywood, wo er 1927 seinen ersten US-Streifen veröffentlichte. Es folgten noch weitere, doch viel Zeit blieb Murnau nicht mehr. Der Südseefilm „Tabu“ war sein letztes Werk. Zurück in Hollywood starb er 1931 mit nur 42 Jahren bei einem Autounfall.


Töne aus Licht

Murnau blieb bis zuletzt dem Stummfilm verbunden, erlebte aber die Anfänge des Tonfilms noch mit. Bei dieser umwälzenden Neuerung führen wichtige Spuren ebenfalls nach Bielefeld, kam hier doch wenige Monate nach Murnau Joseph Massolle zur Welt, einer der Väter des „Lichttonverfahrens“. Töne werden dabei in elektrische Impulse verwandelt, die eine Speziallampe unterschiedlich hell aufleuchten lassen. Diese Lichtschwankungen werden zusätzlich zum eigentlichen Film auf Zelluloid gebannt und zusammen mit ihm vervielfältigt. Im Kino übernimmt der Projektor per Fotozelle die Rückverwandlung der Lichtspur in Stromimpulse. Letztere können von Lautsprechern in Schallwellen umgesetzt werden, und zwar – das ist der Hauptpunkt – absolut synchron zu den Filmbildern.

Massolle entwickelte das Verfahren zusammen mit seinen Kollegen Hans Vogt und Joseph Benedict Engl. Am 17. September 1922 feierte es am Berliner Kurfürstendamm erfolgreich Premiere, seitdem nannte sich die Arbeitsgruppe Tri-Ergon, das „Werk der Drei“. Doch der Tonfilm, der für die Kinowelt enorme technische Umrüstungen bedeutete, setzte sich in Deutschland nur allmählich durch, und das Dreierwerk ging darüber auseinander. Massolle wurde stattdessen technischer Direktor der 1928 gegründeten TOBIS, der „Tonbildsyndikat AG“. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt er eine Ehrendoktorwürde und das Bundesverdienstkreuz, doch wirtschaftlich zahlten sich seine vielen Patente für ihn kaum aus. Der Mann, der eigentlich Millionär sein müsste, wie es einmal in der Presse hieß, erwarb auch keine Rentenansprüche und starb daher 1957 in ärmlichen Verhältnissen.

Ein neues Werk der Drei

Heute gibt es wieder ein „Tri-Ergon Filmwerk“. Die drei Bielefelder Kinoenthusiasten Frank Bell, Holger Schettler und Michael Wiegert-Wegener haben es 2015 als Stiftung ins Leben gerufen, um ihre Sammlung von Projektoren, Kameras, Filmen, Requisiten und Drehbüchern ehemaliger Filmfirmen aus Bielefeld für die Öffentlichkeit zu bewahren. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass 2020 im Historischen Museum der Stadt die Ausstellung „Die große Illusion“ gezeigt werden konnte, die 125 Jahre allgemeine Kinogeschichte mit Bielefelds spezieller Lichtspielhistorie verknüpfte. Womit nicht nur Murnau und Massolle gemeint waren, es ging ebenso um die lokalen Filmtheater, die dort arbeitenden Menschen und sogar um geräuschlose Theater-Klappstühle aus Bielefelder Fabrikation.

Im Museum war die Ausstellung pandemiebedingt nur zwei Monate lang zu sehen. Doch inzwischen hat sie eine neue Heimat – das MuMa-Forum. Die in der Stadt Bielefeld dafür gefundene Halle konnte mit Landesmitteln umgebaut werden. Sie bietet neben der Ausstellungsfläche genug Patz für das Schaudepot der Stiftung Tri-Ergon. Die NRW-Stiftung, die schon das Begleitbuch, eine DVD und Maßnahmen zur Barrierefreiheit der ursprünglichen Ausstellung finanziert hatte, beteiligte sich auch an der Einrichtung des MuMa. Sie förderte hier ein Stellsystem mit großer Fotowand zu F.W. Murnau und Joseph Massolle – dem Meister des stummen und dem Wegbereiter des tönenden Films.

Text: Ralf J. Günther

Blickpunkt

Die NRW-Stiftung half der Stiftung „Tri-Ergon Filmwerk“ bei der Herstellung einer großen Fotowand mit Stellsystem im Bielefelder Murnau- und Massolle-Forum. Zuvor wurde bereits die Ausstellung „Die große Illusion“ durch Förderung der gleichnamigen Begleitpublikation (ISBN 978-3-00-066521-9) sowie bei Maßnahmen zur Barrierefreiheit unterstützt.
www.tri-ergon-filmwerk.de
www.muma-forum.de