Die Entfaltung der Stille

Die Autobahnkirche Siegerland in Wilnsdorf

Foto: Jörg Hempel

„Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n, auf der Autobahn. Die Fahrbahn ist ein graues Band, weiße Streifen, grüner Rand.“ So sang die Düsseldorfer Band Kraftwerk im Jahr 1974. Weit über zwanzig Minuten dehnte sich die Album-Version ihres Stückes „Autobahn“ – wie die Ahnung einer langen Reise. Zum Unterwegssein gehört aber auch das Anhalten, die Pause, und manchmal sogar das Innehalten, der Moment der Besinnung, wie er sich etwa in einer Autobahnkirche erleben lässt. Rund vierzig davon gibt es in Deutschland. Fast alle gehen auf private Initiativen zurück, darunter die mit mehreren Architekturpreisen ausgezeichnete Autobahnkirche Siegerland an der A 45.

Kennen Sie das Verkehrszeichen 365-59? Höchstwahrscheinlich: Als sogenanntes Richtzeichen zeigt es eine schwarze Kirchensilhouette in blauer Umrandung, Hinweis auf eine nahe Autobahnkapelle. Reale Bauformen wurden hier zum abstrakten Abbild stilisiert – eine Abstraktion, die ihrerseits an der A 45 in strahlend weiße Architektur zurückverwandelt worden ist. Denn wie ein riesiges Piktogramm erhebt sich die Autobahnkirche Siegerland am Rande des Autohofs Wilnsdorf. Erst beim Näherkommen fächert sich das scheinbar zweidimensionale Bauwerk räumlich auf. Der Vergleich mit Origami, der Kunst des Papierfaltens, liegt nahe, ähnlich wie bei der – allerdings fünf Jahre jüngeren Fassade – des Papiermuseums in Düren, die 2018 ganz bewusst in einer Origami-Stilistik errichtet wurde.


Verhülltes Holz

Im Innern verblüfft die äußerlich so kubistisch wirkende Kirche erneut – mit filigranen Holzstrukturen auf kuppelartig gewölbten Wandflächen. Barbara Schock-Werner, die ehemalige Kölner Dombaumeisterin, fühlte sich bei ihrem Besuch begeistert an ein spätgotisches Diamantgewölbe erinnert. Gekommen war sie in ihrer Eigenschaft als Vizepräsidentin der NRW-Stiftung, da der „Förderverein Autobahnkirche Siegerland e. V.“ dringend finanzielle Hilfe für Sanierungsmaßnahmen benötigte. Dass das Weiß der Kirchenfassade vergleichsweise schnell der Auffrischung bedürfen würde, war zu erwarten gewesen. Mit Dichtigkeitsmängeln an den Turmspitzen hatte jedoch niemand gerechnet, und ebenso wenig damit, dass die Kunststoffschicht, unter der sich die hölzerne Kirchenkonstruktion verbirgt, beim Bau zu schwach aufgetragen worden war – kein Planungsfehler, sondern das Versäumnis einer ausführenden Firma, die sich wegen Insolvenz zur Nachbesserung nicht mehr heranziehen ließ.

Kirchensanierungen werden von der NRW-Stiftung nur unter besonderen Bedingungen unterstützt. Private Trägerschaft ist ausschlaggebend – so wie bei der Autobahnkirche Siegerland. Die Idee zu dem Bauwerk stammte von Hartmut und Hanneliese Hering aus Burbach, die sich einen der von ihnen hochgeschätzten Orte der Stille am Rande des Fernverkehrs auch im Siegerland wünschten. Sie gründeten deshalb zusammen mit Ute Pohl und vielen anderen den „Förderverein Autobahnkirche Siegerland“. Den anschließenden Architektenwettbewerb gewann das Frankfurter Büro Schneider und Schumacher, dessen Entwurf dem Kirchenbau im Umfeld des Autohofs starke Wirkung verschafft. Finanziert wurde das Projekt im Wesentlichen aus Spenden.


Botschafterin der Ökumene

Die Autobahnkirche ist eine Einladung, die rund um die Uhr, sieben Tage die Woche gilt. Selbst während der Sanierungsarbeiten stand die Kapelle offen, die monatlich von rund 2.200 Menschen besucht wird. Dabei spielen feste Termine und Sonderveranstaltungen eine wichtige Rolle, zum Beispiel die jeden Freitag stattfindende Wochenschlussandacht. Konzerte, Lesungen, Meditationen und Führungen ziehen zusätzlich zahlreiche Interessierte an. Konfessionell gebunden ist die Kirche wie die allermeisten Autobahnkirchen nicht, vielmehr eine Botschafterin der Ökumene, so wie übrigens auch Hanneliese und Hartmut Hering eine katholisch-evangelisch gemischte Ehe führten. Sie endete nach über sechzig Jahren erst mit dem Tod Hartmut Herings im Juni 2020. Seinen 90. Geburtstag hatte er im Jahr zuvor noch in der außergewöhnlichen Kirche erleben können, die es ohne ihn und seine Frau nicht geben würde.

Text: Ralf J. Günther

Kapellen für Pilgerund Kraftfahrer

Autofahrten sind in der Regel keine Wallfahrten. Trotzdem erinnern die Autobahnkirchen Deutschlands daran, dass Pilger- und Reisewege schon vor Jahrhunderten von Kapellen, Wegekreuzen und Bildstöcken gesäumt wurden. Die Verbindung zwischen dieser Tradition und unseren modernen motorisierten Zeiten wird besonders in Wattenscheid-Sevinghausen anschaulich, wo die historische Pilgerkapelle St. Bartholomäus seit 1972 explizit als Autofahrerkapelle dient. Das kleine Bauwerk aus dem 17. Jahrhundert liegt an der L 654, dem Wattenscheider Hellweg, und erinnert so daran, dass sich auch an Land- und Bundesstraßen Andachtsräume für Kfz-Reisende finden. Eine 1961 erbaute „Kraftfahrerkapelle“ gibt es – um nur ein weiteres Beispiel anzuführen – ebenfalls in Telgte-Raestrup an der B 64, östlich von Münster.

Blickpunkt

Die NRW-Stiftung unterstützt den Verein „Autobahnkirche Siegerland e.V.“, der seine Arbeit ohne öffentliche Zuschüsse leistet, bei der Erhaltung des Kirchengebäudes an der A 45. Über die Verwitterung der Kunststofffassade hinaus würden sonst Undichtigkeiten auch den aus Holz gestalteten Innenraum eines mehrfach preisgekrönten Beispiels für sakrale Architektur im 21. Jahrhundert gefährden.
www.autobahnkirche-siegerland.de