Ein Publikumsliebling sucht Lebensraum

Braunkehlchen: Vogel des Jahres

Foto: blickwinkel / AGAMI / M. Varesvuo

Foto: blickwinkel / AGAMI / M. Varesvuo

Über mangelnde Sympathie kann sich das Braunkehlchen nicht beklagen. Als die Naturschutzverbände NABU und LBV zur Online-Abstimmung riefen, um den „Vogel des Jahres“ 2023 zu küren, erhielt der knapp spatzengroße Bewohner feuchter Wiesen, Wegränder und Brachen annähernd 60.000 Stimmen: Fast so viel wie alle vier weiteren gefiederten Kandidaten zusammen.

Im „wahren Leben“ hat der unter Vogelfreunden beliebte und wegen seiner neckischen Streifenzeichnung im Gesicht früher gelegentlich auch als „Wiesenclown“ bezeichnete Singvogel dagegen wenig zu lachen. Im Gegenteil: In allen Bundesländern kämpft das früher überall auf dem Land häufige Braunkehlchen ums Überleben.

Wie andere Vogelarten desselben Lebensraums wie Wiesenpieper und Bekassine hat auch das Braunkehlchen im vergangenen Vierteljahrhundert überall in Deutschland mehr als die Hälfte seiner Bestände eingebüßt. Bundesweit rangiert es auf der Roten Liste in der zweithöchsten Kategorie als „stark gefährdet“, in NRW ist die Art noch akuter in Gefahr und deshalb sogar als „vom Aussterben bedroht“ eingestuft.

Wie dramatisch das großräumige Verschwinden der früher charakteristischen Vogelart ist, zeigt das Beispiel Niederrhein. Bis in die 1980er Jahre lebten in den Kreisen Wesel und Kleve noch mehr als 1.500 Braunkehlchen-Paare. Heute gibt es dort kein einziges mehr.

Wie bei vielen in der offenen Agrarlandschaft lebenden Vogelarten ist es die heute großflächig übliche Intensivlandwirtschaft, die das Braunkehlchen in Existenznot bringt. Chemische Pestizide rauben ihm die Insektennahrung und die Wiesenmahd während der Brutzeit zerstört die stets in unmittelbarer Bodennähe angelegten Nester samt Gelege und Nachwuchs. Oft werden dabei die brütenden Braunkehlchen-Weibchen gleich mitgetötet, wie Studien gezeigt haben.

Überleben können Braunkehlchen heute fast nur noch in Gebieten, in denen dem Naturschutz Vorrang eingeräumt und die landwirtschaftliche Nutzung gezielt auf das Überleben der Vögel abgestimmt wird. Kein Wunder also, dass der allergrößte Teil der in NRW verbliebenen rund 200 Paare in solchen Wiesenvogelschutzgebieten letzte Refugien gefunden hat. Dort hat der Braunkehlchen-Schutz in den vergangenen Jahren erstaunliche Erfolge verbucht. Paradebeispiele für diesen Ansatz sind die Vogelschutzgebiete „Medebacher Bucht“ im Hochsauerlandkreis und „Wiesen und Wälder bei Burbach und Neunkirchen“ im Kreis Siegen-Wittgenstein im Westerwald. Auf den dort unter Naturschutz­gesichtspunkten bewirtschafteten Flächen – viele davon im Besitz der NRW-Stifftung – leben heute 80 Prozent aller Braunkehlchen Nordrhein-Westfalens.

Braunkehlchen-Schutz heißt konkret vor allem: Gemäht werden die Wiesen erst, wenn die Jungvögel aus ihren Nestern ausgeflogen sind. Das ist meist erst Anfang Juni der Fall, denn Braunkehlchen sind sogenannte Langstreckenzieher – sie kehren meist erst im Mai aus ihren afrikanischen Überwinterungsgebieten in den Savannen Westafrikas zurück und beginnen spät mit dem Brutgeschäft. „Gelegeschutz, Offenhalten der Landschaft gegen Verbuschung und eine extensive Bewirtschaftung ohne viel Chemie“ – so beschreibt Michael Jöbges von der Vogelschutzwarte NRW die Voraus-
setzungen für einen Braunkehlchen-Lebensraum. Nach dieser Leitlinie wird auch die Landbewirtschaftung in den von den jeweiligen Biologischen Stationen betreuten Gebieten mit den Bedürfnissen der Natur abgestimmt.

Wer Braunkehlchen erleben und ein einträchtiges Miteinander von Landwirtschaft und Naturschutz besichtigen möchte, kann dies bei einer kleinen Wanderung durch die Nuhnewiesen im Hochsauerlandkreis tun – dem größten zusammenhängenden Mähwiesengebiet des Landes. Um in der Aue eine Nutzung und Pflege zu verwirklichen, die für den Erhalt der wertvollen Mähwiesen und ihrer Bewohner geeignet ist, wurden große Kernbereiche in das Eigentum der NRW-Stiftung überführt. Ein Wanderweg führt auf drei Kilometern in das Reich des Braunkehlchens, von dem dort etwa 40 Brutpaare leben.

Die Schutzgebiete im Hochsauerland und im Westerwald sieht auch der staatliche Vogelschützer Jöbges als Hoffnungsschimmer, um dem „Vogel des Jahres“ das Überleben in NRW zu sichern. „In der heute als normal geltenden intensiv genutzten Agrarlandschaft hat das Braunkehlchen keine Chance“, sagt er. Die Bestände in den Vogelschutzgebieten im Westerwälder Dreiländereck von NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz und im Sauerland seien dagegen über die Jahre stabil oder nähmen sogar leicht zu.

Text: Thomas Krumenacker

Blickpunkt

Die NRW-Stiftung hilft dem Braunkehlchen durch den Ankauf geeigneter Lebensräume und die Förderung der Arbeit der Biologischen Stationen in den Regionen der Schwerpunktvorkommen. Ein großer Teil der in NRW verbliebenen Braunkehlchen-Paare brütet heute auf Flächen im Eigentum der NRW-Stiftung im Hochsauerlandkreis und im Kreis Siegen-Wittgenstein im Westerwald. Ohne die dort ganz auf die Ansprüche der Wiesenbrüter ausgelegte Landschaftspflege gäbe es bald keine Braunkehlchen mehr in NRW.