Insektengeschichte mit Zukunft

Krefelder Entomologischer Verein

Foto: Werner Stapelfeldt

Foto: Werner Stapelfeldt

Die Insektensammlungen der Stadt und des Entomologischen Vereins Krefeld bieten einmalige Einblicke in die Biodiversität der Vergangenheit und Gegenwart. Die wissenschaftliche Arbeit der Vereinsmitglieder hilft aber auch, Erkenntnisse für eine ökologischere Zukunft zu gewinnen.

Wer sich in diesen Wochen mit Mitgliedern des Entomologischen Vereins Krefeld treffen will, braucht Glück, denn die Insektenforscherinnen und -forscher sind derzeit sehr beschäftigt. Schon seit dem Herbst bewerkstelligen sie nämlich ehrenamtlich in Etappen einen Mammutumzug, der seinesgleichen sucht: Nachdem die Stadt Krefeld den Sammlungen und ihrer Betreuung im Stadtteil Gartenstadt auf fast 1.800 Quadratmetern neue zeitgemäße Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hat, gilt es, die Sammlungen, Archive und eine Bibliothek unbeschädigt in das neue Domizil zu überführen. Kein ganz leichtes Unterfangen, denn die Sammlungen gehören nicht nur zu den wertvollsten wissenschaftlichen Schätzen des Landes – sie sind auch sehr umfangreich. Rund zwei Millionen Insekten finden sich darin als sogenannte Trockenpräparate: sorgsam bestimmt, auf Nadeln präpariert oder auf kleine Kartonagen geklebt und hinter Glas aufbewahrt. Allein dieser Teil des Krefelder Insektenbestandes umfasst mehr als 7.000 Insektenkästen. Würde man die jeweils nur sechs Zentimeter hohen Kästen übereinander stapeln, ergäbe sich mit 420 Metern ein „Insektenturm“ von der Höhe eines Mittelgebirges – oder von weit über der doppelten Höhe des Kölner Doms.

Rund 20 Umzugsfahrten vom bisherigen Vereinsstandort in der Krefelder Marktstraße zur neuen Heimat in der Magdeburger Straße haben die Aktiven des Vereins seit Beginn des Umzugs im vergangenen Herbst schon hinter sich gebracht, weitere stehen bevor. Sobald der Umzug vollbracht ist, soll die neue Wirkungsstätte des weltweit bekannten Vereins mit einer Eröffnungsveranstaltung vorgestellt werden. Bis dahin bleibt noch einiges zu tun: Auch eine umfangreiche Spezialbibliothek, zahlreiche technische und optische Geräte, das Archiv mit kompletten Nachlässen und nicht zuletzt die „Nasssammlung“ müssen bis dahin umsiedeln. Rechnet man letztere – also Insekten aus den Forschungsprojekten, die noch in Konservierungsflüssigkeiten aufbewahrt werden – hinzu, umfasst der Krefelder Sammlungsbestand um die 100 Millionen Insekten und sucht damit wohl auch weltweit seinesgleichen.

Ein Spezialunternehmen wäre für den Umzug zu teuer und ein normales Umzugsunternehmen mit der heiklen Aufgabe zu betrauen, kommt für die Entomologen und Entomologinnen nicht in Frage. „Viele dieser Insektenpräparate sind unwiederbringlich und schon ein kleiner Patzer kann dazu führen, dass etwas zu Bruch geht“, sagt der Vereinsvorsitzende Thomas Hörren.

Insektenschätze aus 200 Jahren

In der Tat schlummern in den Insektenkästen, Vitrinen und Archivboxen des Krefelder Vereins Schätze von unschätzbarem kulturellen, historischen und vor allem wissenschaftlichen Wert. Deshalb ist die Sammlung auch als bewegliches Denkmal ausgewiesen. Besonders wertvoll macht sie die lange Tradition, auf die der 1905 gegründete Verein zurückblicken kann. In den Vitrinen und Archiven finden sich die Lebenswerke ganzer Generationen von Insektenforschern. Und weil auch die frühen Entomologen bereits Sammlungen aus der Vergangenheit gesichert haben, versammelt der Bestand Wissen und Belege über Insektenvorkommen bis tief in das 19. Jahrhundert hinein. „Die hier befindlichen Präparate dokumentieren insektenkundliche Forschungstätigkeit über eine Zeitspanne von 200 Jahren“, sagt Hörren.

Damit öffnen die Präparate, Tagebuchaufzeichnungen, Zeichnungen und Fotografien ein für die wissenschaftliche Forschung enorm wertvolles Fenster in die Vergangenheit. „Viele der früher häufigen Insekten sind heute Raritäten oder regional bereits ausgestorben“, berichtet Hörren: Ohne ihre Dokumentation in der Krefelder Sammlung wüsste man von vielen nicht einmal, dass es sie in der Region einmal gab. Ob für die Erstellung neuer Roter Listen gefährdeter Arten oder die Untersuchung klimawandelbedingter Veränderungen der Verbreitung von Insekten: Die Krefelder Sammlungen sind ein wichtiger Anlaufpunkt für den staatlichen Naturschutz, aber auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt. „Die ganze Dramatik des Biodiversitätsverlustes wird mit wissenschaftlichen Sammlungen wie dieser überhaupt erst sichtbar“, erläutert Thomas Hörren.

Die „Krefelder“ sind damit so etwas wie Archäologen und Archäologinnen der biologischen Vergangenheit. Die aktuelle wissenschaftliche Arbeit der Vereinsmitglieder gilt aber vor allem dem Bestreben, fachlich abgesicherte Grundlagen für den Erhalt der Biodiversität, also der Vielfalt von Arten und Ökosystemen, zu legen. „Uns ist wichtig, dass wir überall lokale Biodiversität schützen und dabei helfen, Wege zu finden, wie die Beeinträchtigung oder gar das Erlöschen von Arten und Populationen vermieden werden kann“, beschreibt Hörren den über das reine Sammeln von Insekten hinausgehenden Anspruch der Krefelder Entomologen. „Wir müssen biologische Vielfalt in ihrer Gesamtheit verstehen.“

Weltruhm über Nacht

Während die Betreuung und Pflege der Sammlungsbestände ausschließlich ehrenamtlich geleistet werden, finanzieren die im Verein zusammengeschlossenen Top-Expertinnen und Experten für Wespen, Käfer, Bienen, Schmetterlinge, Mücken & Co ihre Forschungsarbeit über die Auftragsforschung, oft in Projektkooperationen mit Hochschulen im In- und Ausland. Auch von privater und staatlicher Seite kommen Aufträge.

Über Nacht zu Weltruhm gelangte die Arbeit der Forscherinnen und Forscher aus NRW mit der Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Studie 2017 im Fachjournal „PlosOne“. Darin wurden die Ergebnisse der über einen fast 30-jährigen Zeitraum von 1989 bis 2016 mit standardisierten Insektenfallen durchgeführten Erhebungen zur Entwicklung der Insektenbestände in Naturschutzgebieten ausgewertet. Bei den Untersuchungen in mehr als 60 deutschen Schutzgebieten wurde ein Rückgang von 76 Prozent – im Hochsommer sogar bis zu 82 Prozent – der Fluginsekten-Biomasse festgestellt. Diese dramatischen Erkenntnisse zum Insektenschwund stellten den von vielen Menschen „gefühlten“ Verlust der Biodiversität auf ein wissenschaftliches Fundament. Die Reaktionen auf die „Krefelder Studie“ international und in Deutschland waren so überwältigend, dass viele der Autoren sich eine neue Telefonnummer zulegen mussten, um den Ansturm irgendwie zu begrenzen.

Dass das Thema „Insektensterben“ und genereller der Verlust der Artenvielfalt wenigstens etwas stärker auf die politische Tagesordnung gesetzt wurde – beispielsweise über ein Insektenschutzgesetz auf Bundesebene –, ist auch ein Verdienst der wissenschaftlichen Arbeit der Krefelder Entomologen. Als besonders wichtige Botschaft, auch während der Corona-Pandemie andere große Menschheitsaufgaben wie die Bewahrung der Biodiversität nicht aus dem Blick zu verlieren, würdigte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Arbeit der Krefelder Insektenspezialisten, als er stellvertretend den Kurator der Sammlung und Vereins-Vize Dr. Martin Sorg mit dem Deutschen Umweltpreis in der erstmals verliehenen Ehrenkategorie auszeichnete.

Die weltberühmt gewordene Untersuchung verbindet nach vorne gerichtete Forschung und „historische“ Sammlungstätigkeit: Denn auch die „Krefelder Studie“ wäre nicht möglich gewesen, ohne auf archivierte Proben zurückzugreifen, die nach den von den Krefelder Entomologen entwickelten Methodenstandards und Protokollen über Jahrzehnte hinweg gewonnen wurden und im Archiv für aktuelle Forschungen bewahrt werden.
 
Und was ist den Krefelder Forscherinnen und Forschern selbst an ihrer Arbeit besonders wichtig? „Die Nachwuchsarbeit“, sagt Vereinsvorsitzender Thomas Hörren ohne zu zögern. Gleich ob in Kita, Schule oder Universität: „Wir haben bisher viel zu wenig Grund­bildung zur Biodiversität und zu wenig qualifizierte Experten und Expertinnen.“ Mit seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern arbeitet er daran, das zu ändern. Der Nachwuchs – Vereinsangehörige ebenso wie interessierte Nichtmitglieder – wird tatkräftig mit Leih-Binokularen, Bestimmungsliteratur und Workshops unterstützt.

Dafür, dass jungen wie älteren Insektenfans die wissenschaftliche Arbeit nicht ausgeht, ist übrigens gesorgt. Nach Schätzungen gibt es in Deutschland rund 34.000 Insektenarten. Einige tausend davon sind noch nicht einmal als eigene Art beschrieben – vor allem kleine Fliegen, Mücken und Wespen. „Hinsichtlich ihrer Gefährdung wissen wir für etwa 20.000 Insektenarten noch gar nichts“, sagt Hörren. Anders als bei Vögeln oder Säugetieren warten also selbst in einem hochentwickelten und gut erforschten Land wie Deutschland noch jede Menge ‚neue‘ Arten auf ihre Erforschung.

Text: Thomas Krumenacker

Blickpunkt

Die NRW-Stiftung unterstützt die Arbeit des Vereins seit langem. Für die neue Heimat des Vereins stellt sie 90.000 Euro zur Verfügung, damit Sammlung und Forschungsaktivitäten auf einem zeitgemäßen museumsgerechten Standard fortgeführt werden können. Aus der Förderung werden Spezialschränke und -regale ebenso finanziert wie die Einrichtung für Forschung und Fortbildungsveranstaltungen. www.entomologica.org