Die Wüstung und das Welterbe

 

Civitas Corvey Höxter

Foto: LGS Höxter

Foto: LGS Höxter

Eng verbunden mit der ehemaligen Reichsabtei Corvey an der Weser gab es einst eine städtische Siedlung, die im Jahr 1265 zerstört und in der Folge aufgegeben wurde – eine Wüstung, so der Fachausdruck. Das Wort klingt trist, doch was könnte spannender sein als die Überreste einer versunkenen Stadt? Manche nennen sie sogar das westfälische Pompeji, zumal angesichts ihres unmittelbaren Zusammenhangs mit dem bislang einzigen UNESCO-Weltkulturerbe in Westfalen, dem Westwerk und der Klostersiedlung Corvey. Wie die Stadt aussah, als sie noch lebendig war, wird nun in einem archäologischen Park mit mehreren Infokuben plus App-Unterstützung veranschaulicht. Auch ein Besuch beim mittelalterlichen „Chirurgen von der Weser“ steht an, zum Glück ohne OP-Termin.

Corvey ist ein Ort mit großer Geschichte, nicht nur in Hinblick auf das Weltkulturerbe. Berühmt wurde etwa der Mönch Widukind, der hier im 10. Jahrhundert eines der bekanntesten Bücher des Mittelalters schrieb, die „Sachsengeschichte“, die sich mit den Monarchen Heinrich I. und Otto dem Großen befasst. Klangvoll präsentiert sich die große barocke Kirchenorgel, die jüngst mithilfe der NRW-Stiftung saniert wurde. Und auch der Dichter Heinrich Hoffmann von Fallersleben wäre zu erwähnen, dessen Zeilen über Einigkeit und Recht und Freiheit heute als Text der deutschen Nationalhymne gesungen werden. Als er 1860 nach Corvey kam, hatte das Kloster seinen kirchlichen Status – zuletzt war es sogar Bischofssitz gewesen – durch die Umbruchszeit unter Napoleon schon lange verloren. Nun gehörte es den Herzögen von Ratibor, die Hoffmann als Bibliothekar verpflichteten. Eifrig erwarb er alsbald zahlreiche Prachtbände – und zahllose Mausefallen, denn ein Heer von Nagern bedrohte die Bücherschätze des Schlosses.

„Umhege Herr, diese Stadt“

Als der prominente Büchernarr 1874 in Corvey starb, blickte man dort schon auf über tausend Jahre Geschichte zurück. Im 9. Jahr- hundert war das Kloster gegründet worden – ein Vorposten der christlichen Mission in den von Karl dem Großen unterworfenen Gebieten der Sachsen. Die ersten Mönche kamen aus der Abtei Corbie am französischen Fluss Somme. Sie legten das neue, sächsisch-westfälische „Corbeia“ zuerst einige Kilometer rechts der Weser an, wo es jedoch nicht florierte, so dass sie im Jahr 822 am linken Ufer des Flusses einen zweiten Anlauf unternahmen – und damit auf heutigem NRW-Gebiet, wo der Bundespräsident deshalb im letzten Herbst das Festjahr „1.200 Jahre Corvey“ eröffnen konnte. Bei seiner Gründung gehörte das Kloster zum fränkischen Reich, seinerzeit beherrscht vom Sohn Karls des Großen, Kaiser Ludwig dem Frommen, der die Krone bis 840 trug. Besondere Beachtung verdient eine lateinische Inschriftentafel, die schon zu Ludwigs Lebzeiten die erste Corveyer Klosteranlage (am linken Weserufer) geschmückt haben muss. Diese Tafel fand erneut Verwendung, als man der Klosterkirche zwischen 873 und 885 das heute noch bestehende Westwerk vorlagerte. Von dessen Fassade aus verkündete sie seitdem ihre Botschaft: „Umhege, Herr, diese Stadt, und lass Deine Engel die Wächter ihrer Mauern sein.“

Es steht nicht fest, was der auffällige Begriff „Stadt“, lateinisch „civitas“, auf der Tafel ursprünglich meinte. Die Abtei als Sinnbild des himmlischen Jerusalems? Die Gesamtheit der Kloste­rbesitzungen mit den dazugehörigen Menschen? Klar ist jedoch, dass Corvey tatsächlich zu einem Ankerpunkt städtischer Entwicklung werden sollte. Wichtige Voraussetzungen dafür schuf Ludwig der Fromme im Jahr 833 durch die Verleihung von Marktrechten, die dem Siedlungsareal im Umfeld der Kloster­gebäude zugutekamen. Denn hier, wo Menschen ansässig waren, die für die Abtei arbeiteten, herrschten günstige Bedingungen für den Warenaustausch, weil mit dem sogenannten Hellweg ein wichtiger mittelalterlicher Handelsweg die Weser kreuzte. Zudem schenkte Ludwig dem Kloster eine Ansiedlung namens „Huxori“, aus der später die Stadt Höxter hervorging.

Die Zerstörung

Ein weiteres Siedlungsareal im Weserbogen dehnte die nun samt Kloster von Wall und Graben umschlossene Fläche im späteren 12. Jahrhundert auf 55 Hektar aus. 1255, als das Städtewesen voll erblüht war, gab es hier auch eine Ratsverfassung. Zugleich aber steuerte das Konkurrenzverhältnis zur nahen Schwesterstadt auf eine Katastrophe zu. 1265 trat sie ein: Höxter und der Bischof von Paderborn verbündeten sich und richteten in Corvey schwere Zerstörungen an. Das Kloster überdauerte, die Civitas jedoch erholte sich von dem Angriff nicht mehr. Die Menschen wanderten ab, bis die Stadt schließlich so vollkommen wüst fiel, dass in der Geschichtsforschung zeitweilig Zweifel an ihrer Existenz aufkam.

Heutzutage sind wir durch die langjährigen archäologischen Untersuchungen insbesondere des Forschers Hans-Georg Stephan besser unterrichtet. Doch wie die gewonnenen Ergebnisse anschaulich vermitteln? Anlässlich der Landesgartenschau 2023 entstand die von der NRW-Stiftung geförderte Idee, das Bodendenkmal durch Leitstege und Infokuben für das Publikum zu erschließen. Die hölzernen Infostationen markieren dabei fünf prägende Punkte im Stadtgebiet wie die ehemalige Marktkirche, zugleich bieten sie moderne Audiotechnik. Durch gesprochene Dialoge teilweise fiktiver, teilweise historisch verbürgter Personen lernt man unter anderem den örtlichen Brückenmeister sowie einen Fernhändler aus Nowgorod kennen. Darüber hinaus lassen sich per kostenloser „Archäo-App“ dreidimensionale optische Eindrücke aufs eigene Display holen – nicht zuletzt von dem Haus, in dem einst der „Chirurg von der Weser“ gewohnt haben könnte.

Das Besteck des Chirurgen

Wie der legendäre Wundarzt hieß, ist leider unbekannt, doch zeigen die von ihm erhaltenen Aufzeichnungen, dass er etwa von 1220 bis 1260 gelebt, in Bologna und Montpellier studiert sowie in Paris und an der Weser praktiziert haben muss. Möglicherweise behandelte er sogar den Herzog von Braunschweig. Zu seinen Spezialitäten zählten Augenoperationen wie der sogenannte Starstich (siehe Kasten). Eine archäologische Sensation gab es im Jahr 1988: Bei Ausgrabungen in Corvey tauchte ein mehrteiliges mittelalterliches Operationsbesteck auf, das vermutlich dem Weserchirurgen zuzuordnen ist. Der Fund wirft nicht nur eindrucksvolle Schlaglichter auf die Geschichte der Medizin, sondern auch auf das Leben und Leiden in der verschwundenen Civitas – für uns mit dem angenehmen Gefühl verbunden, mittelalterliche Operationsmethoden nicht mehr fürchten zu müssen.

Text: Ralf J. Günther

Der Stich ins Auge

Der Starstich fand bei der meist altersbedingten Eintrübung der Augenlinsen Anwendung, dem sogenannten Grauen Star. Der Kopf der erblindeten Person wurde dabei von einem Helfer festgehalten, während der Arzt mit einer Nadel in das Auge stach, um die Linse zu lösen, in den Augapfel hinabzudrücken und so buchstäblich aus dem Weg zu räumen. Mit dem Licht, das nun wieder ungehindert auf die Netzhaut fallen konnte, kehrte bei glücklichem Verlauf die optisch wahrnehmbare Welt für die Operierten zurück – wenn auch um den Preis extremer Weitsichtigkeit. Die Methode wurde Jahrtausende lang praktiziert, war indes genauso brachial, wie sie sich anhört. Zu ihren prominentesten Opfern gehörte Johann Sebastian Bach. Der ohnehin gesundheitlich angeschlagene Komponist überlebte einen zweifachen Starstich im Jahr 1750 nur um wenige Monate. Heute werden eingetrübte Linsen in der Regel durch künstliche Implantate ersetzt.

Blickpunkt

Die NRW-Stiftung half dem Förderverein der Landesgartenschau Höxter bei den fünf Infostationen sowie der ArchäoApp zur Stadtwüstung Corvey. Schloss Corvey wurde von der Stiftung zuvor schon mehrfach unterstützt, so bei der Museumseinrichtung und der Restaurierung eines Reliquienschreins, bei der Gebäudesanierung und der Rettung der barocken Klosterorgel.
www.welterbewestwerkcorvey.de