NRW-Kultur an Dritten Orten

Dritte Orte

Foto: Ulrich Mertens

Foto: Ulrich Mertens

Soziologie – das klingt nach komplexen Denkansätzen mit vielen Fachbegriffen. Das Konzept der sogenannten Dritten Orte hat aber im Grunde schon verstanden, wer zwischen heimischem Wohnzimmer, Arbeitsplatz und Treffpunkten für Kultur und Begegnung zu unterscheiden weiß. Noch klarer wird die Theorie durch ihre praktische Anwendung in einem aktuellen Kulturförderprogramm für den ländlichen Raum, das beim NRW-Ministerium für Kultur und Wissenschaft angesiedelt ist. Die damit verbundenen Zielsetzungen haben viele Berührungspunkte mit der Arbeit der Nordrhein-Westfalen-Stiftung.

Lesen Sie diese Zeilen zuhause auf dem Sofa? Oder vielleicht bei einer kleinen Pause am Arbeitsplatz? Dann halten Sie sich gerade nicht an einem Dritten Ort auf. Denn laut dem amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg ist das Wohn- beziehungsweise Familienumfeld der Erste Ort im Leben eines Menschen, der Arbeitsplatz hingegen der Zweite. Als Dritte Orte gelten demgegenüber leicht erreichbare Treffpunkte, die für alle offen sind, den gegenseitigen Austausch fördern und gemeinsame Freizeit- oder Kulturaktivitäten ermöglichen. Zugegeben, im Zeitalter von Internet und Homeoffice verschwimmt so manche Grenze, daher wurde bereits diskutiert, inwieweit es Dritte Orte auch rein virtuell im Netz geben könnte. Doch das Konzept der „third places“ stammt ursprünglich von 1989, und Ray Oldenburg ging es damals nicht unbedingt um Innovationen. Zu den „great good places“, wie sie bei ihm heißen, zählte er zum Beispiel Wiener Kaffeehäuser oder bayerische Biergärten – fast schon nostalgische Verweise auf europäische Traditionen. Umso spannender das Echo, das Oldenburgs Ansatz umgekehrt auf dem alten Kontinent erhält.

Kulturelle Grundversorgung

Das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen hat sein Förderprogramm für Dritte Orte im Jahr 2019 gestartet und im Untertitel genauer umrissen. Er lautet: Häuser für Kultur und Begegnungen im ländlichen Raum. Der nichtstädtische Raum steht im Mittelpunkt, weil die kulturelle Grundversorgung in strukturschwachen Regionen vom gesellschaftlichen Wandel besonders betroffen ist und weil Ankerpunkte des Gemeinschaftslebens wie Vereinsheime, Gemeindesäle oder Pfarrbibliotheken hier zunehmend zu verschwinden drohen. Kommerzielle und virtuelle Angebote sind von der Förderung allerdings grundsätzlich ausgeschlossen, die auf das ehrenamtliche Engagement direkt vor Ort zielt.

Wer die NRW-Stiftung kennt, horcht an dieser Stelle auf. Denn die Stiftung fördert ja das Engagement von Menschen, die sich in ihrem Lebensumfeld für Naturschutz, Heimat und Kultur einsetzen. Kein Wunder also, dass zu den 26 für das Förderprogramm ausgesuchten Initiativen auch Partnerprojekte der NRW-Stiftung gehören wie das niederrheinische Schlösschen Borghees mit seinem engagierten Förderverein. Ergänzend zu den Kulturangeboten, die es in dem kleinen Herrenhaus auf dem Gebiet der Stadt Emmerich schon länger gibt, wurde hier jüngst ein alter Pferdestall zum barrierefreien Veranstaltungsort mit Kleinkunstbühne, Figurentheater und flexiblem Podium umgebaut. Die von der NRW-Stiftung geförderte Maßnahme bedeutete bereits einen wichtigen Impuls auf dem Weg zum Dritten Ort, der sich mit der Einbeziehung der rund um das Schlösschen gelegenen Grünflächen in das Gesamtkonzept fortsetzt. Ein künftiger „KulturgARTen“ soll Platz für Veranstaltungen, aber auch für Heil- und Küchenkräuter, eine Instagram-Bühne sowie sogenannte Schlechtwetter-Hoekjes, sprich: Unterschlupfwinkel bieten. Auf diese Weise eröffnen sich in Borghees immer mehr Räume und Freiräume, in denen Initiativen aktiv werden können, sei es bei Theater- und Kreativworkshops, bei Chorstunden oder bei „Quasselrunden“ für Menschen, die ihre Deutschkenntnisse verbessern möchten.

Mitmachen ohne Schwellenangst

Das Engagement der NRW-Stiftung im ländlichen Raum dient nicht zuletzt der Belebung von Ortskernen durch die gleichzeitige Förderung von Denkmalschutz und sozialer Begegnung. Aus diesem Grund wurde im ostwestfälischen Fürstenberg die energetische Sanierung einer ehemaligen Zehntscheune aus dem Jahr 1776 unterstützt, die dadurch ganzjährig als multifunktionaler Kulturort zur Verfügung steht. Fürstenberg, ein Stadtteil von Bad Wünnenberg, darf sich über sage und schreibe 31 Vereine und Gemeinschaften freuen, die in den Initiativen „Pro Fürstenberg e. V.“ und „Sintfeld Stiftung e. V.“ kooperieren. Ihnen liegt es am Herzen, die Zehntscheune mit ihrer Bühne und ihren flexibel nutzbaren Räumen als Dritten Ort voranzubringen. Der Projektname „KulturScheune 1a“ leitet sich dabei von der Postanschrift „Am Schlosspark 1a“ ab, unterstreicht aber zugleich die Qualitätsansprüche an das Vor-haben. Besonders wichtig: Die Scheune soll Mitmachprojekte ermöglichen, die ohne einen niederschwelligen gesellschaftlichen Anlaufpunkt selten oder nie zustande kämen. Ob Tanz- oder Kindertheater, Umweltabend, Nähwerkstatt oder integrativer Treff – am Dritten Ort dürfen sie sich entfalten.

Text: Ralf J. Günther


Merkmale eines Dritten Ortes

1. Physischer, auf Dauer angelegter Ort
2. Gute Erreichbarkeit
3. Niedrigschwelliger, barrierefreier Zugang
4. Geeignete Öffnungszeiten
5. Einladende Atmosphäre und Gestaltung
6. Kulturelle Angebote, Vernetzung verschiedener Nutzungen
7. Nachhaltige Verantwortungsstruktur
8. Technische Grundausstattung
9. Beteiligungsprozess
10. Einbindung in die Stadt-/Dorf- bzw. Regionalentwicklung

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