Die Geschichte genialer Noten

Beethoven-Haus Bonn

Foto: Lydia Ramos

Allegro assai. Lebhafte Freude am Rhein. Mithilfe der NRW-Stiftung konnte das Bonner Beethoven-Haus jüngst ein wertvolles Notenmanuskript erwerben – unter den von Beethoven selbst geschriebenen Partituren die wohl letzte große, die noch in Privatbesitz war. Sie enthält den vierten Satz eines Streichquartetts, dessen Entstehungsgeschichte viel über die letzten Lebensjahre des Komponisten verrät. Er selbst schenkte dieNotenblätter einem Freund und Mitarbeiter, der sie später weitergab. 1939 zum Raub des Dritten Reichs geworden, verschwand das Dokument nach dem Zweiten Weltkrieg hinter dem Eisernen Vorhang. Die rechtmäßigen Erben erhielten es erst 2022 zurück.

Insgesamt sechzehn Streichquartette schrieb Ludwig van Beethoven. Das als Nr. 13 gezählte, das die Opuszahl 130 trägt, vollendete er Anfang 1826, gut ein Jahr vor seinem Tod. Die Komposition in sechs Sätzen entstand auf Bestellung des russischen Fürsten Golizyn, der einige Jahre in Wien gelebt hatte und von Beethovens Musik begeistert war. Als er 1822 bei dem Meister gleich drei Streichquartette in Auftrag gab, nahm der die Möglichkeit gerne wahr, ausgiebig in einem Genre zu arbeiten, das ihn damals ohnehin stark fesselte. Die Arbeit brachte allerdings nur künstlerischen Ertrag, eine Honorarzahlung erlebte Beethoven nicht mehr.

Von Tönen getroffen

Im Zusammenhang mit Opus 130 erfahren wir interessante Einzelheiten über den Zustand von Beethovens Gehörsinn. Es ist bekannt, dass er schon als Endvierziger bei Unterhaltungen auf sogenannte Konversationshefte angewiesen war, in die seine Mitmenschen ihre Äußerungen eintragen mussten. Gleichwohl scheint ihm bis in seine letzten Jahre hinein ein rudimentäres Resthören geblieben zu sein, wurde er beim Besuch der Quartettproben doch von hohen Tönen noch „getroffen“, wie der Violinist Karl Holz bezeugte. Der Komponist hörte auch etwas, wenn man direkt in sein linkes Ohr rief. Laut dem Musikwissenschaftler Theodore Albrecht vermochte er etwa den unerwartet vernommenen Schrei eines Kleinkinds noch freudig zu registrieren.

Beethovens Gehör ließ nach, seine Schaffenskraft nicht. Die oben abgebildeten Noten sehen sogar fast so aus, als seien sie in einem Zug „aus dem Kopf“ aufgeschrieben worden, was aber damit zu tun hat, dass die Partitur statt durch Streichung oft per „Rasur“ des Papiers korrigiert wurde. Das nach Bonn gelangte Manuskript umfasst im Übrigen nur Satz 4 des Werks. Er gehörte zu den Teilen der Gesamtkomposition, die von Anfang an Beifall ernteten. Der ursprüngliche Schlusssatz des Streichquartetts galt hingegen als schwer spielbar und musikalisch kaum verständlich. Der Komponist deklarierte ihn später unter dem Titel „Große Fuge in B-Dur“ zum eigenständigen Opus 133 um. Das Quartett erhielt stattdessen einen neuen Schlussteil in Rondoform.


Kunstvolles Stolpern

Die Originalnoten der sechs Sätze von Opus 130 liegen in Krakau, Paris, Berlin und jetzt in Bonn. Eine solche Aufsplitterung ist für die Überlieferung der späten Beethoven-Streichquartette typisch. Schon der Meister selbst gab die fünfzehnseitige Niederschrift von Satz 4 seines im März 1826 uraufgeführten Streichquartetts aus der Hand – als Geschenk für den schon erwähnten Violinisten Karl Holz, der bei dem Konzert die zweite Geige übernommen hatte. „Bestes Mahagoni Holz“ nannte Beethoven den Mann freundschaftlich, auf den auch die oben zitierte Bemerkung über die Quartettproben zurückgeht.

Der Satz trägt außer der Tempoangabe „allegro assai“ (sehr lebhaft) die Bezeichnung „alla danza tedesca“. Wobei dieser deutsche Tanz mit den zeitgenössischen Wiener Walzern Dreiertakt und Bewegtheit teilte, nicht aber das rauschhafte Drehen und Schweben, für das der Name Strauss zum Markenzeichen werden sollte. Beethoven zelebrierte vielmehr ein kunstvolles musikalisches Stolpern, indem er 3/8- und 3/4-Muster überlagerte und starke Akzente auf eigentlich unbetonte Taktteile legte. Anlässlich der Präsentation der Notenhandschrift, die am 7. Januar 2025 im Kammermusiksaal des Beethoven-Hauses stattfand, erläuterte der Komponist Professor Jörg Widmann diese und andere Eigenheiten des Stückes auf unterhaltsame Weise am Klavier.

Samt und Messing

Karl Holz verwendete Beethovens Autograph später selbst als Geschenk, gewidmet seinem Freund Joseph Hellmesberger „zum Andenken an die vortreffliche Aufführung dieses Quartetts am 6. Dezember 1849“. Der Komponist und Geiger Hellmesberger starb 1893, nachdem er – wie er selbst meinte – lebenslang genug Musik gehört und gespielt hatte, um ein „unmusikalisches Be­gräbnis“ zu verdienen. Eigentümer von Beethovens deutschem Tanz wurde nach ihm der Wiener Rechtsanwalt Heinrich Steger (1854 -1929), der die Notenblätter in den messingbeschlagenen Samt einbinden ließ, in dem sie bis heute vor uns liegen.

Steger hätte es gern gesehen, wenn das Manuskript schon zu seinen Lebzeiten nach Bonn gegangen wäre – als Teil einer Sammlung von insgesamt zehn originalen Notentexten, die er dem Beethoven-Haus anbot. Das Museum konnte sich seinerzeit nicht zum Ankauf des Gesamtpakets entschließen, sondern begnügte sich zunächst mit einigen Einzelstücken. Im Laufe der folgenden hundert Jahre erwarb es dann nach und nach auch die übrigen Manuskripte der Steger-Sammlung. Zuletzt fehlte nur noch Satz 4 von Opus 130, sprich: der deutsche Tanz von 1826.

Von Brünn nach New York

Dass dieses Manuskript nur schwer durch die Zeiten fand, lag an den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. In den 1920er Jahren war die Handschrift Eigentum der jüdischen Unternehmer­familie Petschek aus Aussig in Nordböhmen geworden, deren Mitglieder in den Jahren 1938 bis 1940 über Umwege in die USA flohen. Ihre zur Verschiffung vorgesehene Kunstsammlung wurde jedoch von den Behörden des Dritten Reichs beschlagnahmt, die Partitur landete schließlich – vermutlich 1942 – im Mährischen Museum in Brünn, wohl unter aktiver Beteiligung des Leiters der dortigen Musiksammlung. Letzterer stellte offenbar absichtsvoll die Echtheit der Notenblätter infrage, um das Interesse anderer Stellen daran zu dämpfen.

Nach dem Krieg verweigerte die kommunistische Tschechoslowakei die Herausgabe der Noten, die auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – selbst für die Forschung kaum zugänglich – in Brünn verblieben. Erst 2022 konnten die rechtmäßigen Erben ihre Ansprüche durchsetzen. Die in New York lebenden Nachfahren der Familie entschlossen sich in der Folge, das Manuskript und seine verwickelte Provenienz öffentlich zugänglich zu machen. Der für sie anfangs undenkbare Verkauf nach Deutschland kam durch die Vermittlung des amerikanischen Musikwissenschaftlers Lewis Lockwood als Ehrenmitglied des Beethoven-Hauses zustande. NRW-Kulturministerin Ina Brandes unterstrich daher beim Bonner Festakt: Angesichts des Nazi-Unrechts sei es bewegend, dass  Nachfahren der Familie Petschek die Musikhandschrift nun sogar persönlich nach Deutschland begleitet hätten.

Text: Ralf J. Günther
 

Blickpunkt

Von den einstigen Wohnorten der Familie Beethoven in Bonn steht nur noch das Haus, in dem der Komponist 1770 zur Welt kam. Seit 1893 als Museum genutzt, besitzt es die größte Beethoven-Sammlung der Welt – inklusive einiger monströser Hörrohre. Die NRW-Stiftung unterstützte in den 1990er Jahren die Restaurierung des Gebäudes, außerdem beteiligte sie sich am Ankauf eines Beethovenbriefs und förderte die Kinder-Webseite „Hallo Beethoven“. Das nun mit Stiftungshilfe erworbene Autograph ist die einzige unmittelbar aus der Hand des Komponisten stammende Quelle zu Satz 4 des Streichquartetts Opus 130. Dem Dokument, das online zugänglich ist, widmet sich ab September 2025 eine Aus­stellung, am 17. Dezember, Beethovens Tauftag (sein genauer Geburtstag ist un­­bekannt), wird es zudem live erklingen. – Die NRW-Stiftung hat die Sicherung einzig­artiger Manuskripte unter anderem auch von Heinrich Heine, Robert Schumann und Annette von Droste-Hülshoff gefördert