Seit Herbst 2024 bietet ein denkmalgeschütztes Mauerhaus im westfälischen Rheine spannende Einblicke in das Alltagsleben früherer Jahrhunderte. „Mauerhaus“ – so nennt man es, weil die Lage an der ehemaligen Stadtmauer von Rheine seine Geschichte in besonderer Weise geprägt hat. Genau diese Lage war allerdings zugleich der Grund dafür, dass in dem Haus einst viel gemeckert wurde – zumindest auf der Ziegentreppe.
Als unsere Städte noch von Mauerringen umgeben waren, konnte das beim Bauen eine erhebliche Beengung bedeuten. Nicht selten mussten sich kleine Häuser deshalb regelrecht an Stadtmauern kauern, sich von diesen sogar ihre Rückwände „leihen“. So sahen auch die Anfänge des Mauerhauses in Rheine aus, eines anfangs einstöckigen, seit dem 16. oder 17. Jahrhundert dann zweigeschossig ausgeführten Fachwerkbaus. Es waren Anfänge mit langen Nachwirkungen, denn als man im 19. Jahrhundert die mittelalterliche Rückwand des Hauses zugunsten von mehr Raum beseitigte, blieben im Keller immer noch Überreste der Stadtmauer erhalten. Vor allem aber blieb es bei der Lage am Siedlungsrand einer Stadt, in der damals nur wenige Tausend Menschen lebten.

Fläche durch Vorsprung
Nichts könnte die daraus resultierende Situation anschaulicher machen als die zum Haus gehörige Ziegentreppe. Eigentlich handelt es sich um eine Rampe, die jedoch tatsächlich für Kleinvieh gedacht war. Ziegen oder Schafe, die tagsüber vor der Stadt geweidet hatten, wurden abends über diese Rampe durch das Haus hindurch zurückgetrieben, um in ihren Ställen vor Dieben und wilden Tieren geschützt zu sein. Die Rampe führte entsprechend zu einer Tür in der Rückwand des Gebäudes, eine gegenüberliegende Türöffnung an der Vorderseite ist durch ein historisches Foto belegt.
Bekanntlich nennt man die Ziege auch die Kuh des kleinen Mannes, was ein Schlaglicht auf die Menschen wirft, die das Mauerhaus früher bewohnten. Es waren vor allen Dingen die Mitglieder von Weberfamilien, nicht etwa – wie man bis vor Kurzem noch annahm – Personen wie der Stadtmusikant oder gar ein Weihbischof. Schon die äußere Gestalt des Bauwerks verrät, dass es trotz einer Breite von fast zehn Metern keinen räumlichen Luxus zu bieten hatte – insbesondere, wenn man die große Anzahl von Personen berücksichtigt, die sich in historischer Zeit selbst in winzigen Wohnungen oft zusammendrängten. Wie geschickt im Mauerhaus um jeden Quadratmeter Innenfläche gekämpft wurde, zeigt das etwa achtzig Zentimeter vorspringende Obergeschoss. Nur dieses „Vorkragen“ ermöglichte eine räumliche Erweiterung, ohne die darunter liegende Gasse zu verengen.




Ein Schmarotzerhaus in Menden
Das Phänomen der sogenannten Mauerhäuser war früher vor allem in kleineren Städten verbreitet, bis es im 18. Jahrhundert allmählich verebbte. Zu den eher späten Beispielen gehört das Schmarotzerhaus von etwa 1710 in der sauerländischen Stadt Menden. Der Ausdruck „Schmarotzerhaus“ ist allerdings kein historischer Quellenbegriff, sondern die fast liebevoll-ironische Bezeichnung für ein Gebäude, das es sich an der Stadtmauer bequem machte und sich dort sogar seine Rückwand borgte. So idyllisch wie diese, eher einem Spitzweg-Bild ähnelnde Deutung der historischen Realitäten war das Leben im Mendener Schmarotzerhaus aber ebenso wenig wie im Mauerhaus Rheine. Gefördert durch die NRW-Stiftung ist das Mendener Baudenkmal heute ein kleines Museum, in dem die bescheidene Arbeits- und Wohneinrichtung einer Schneiderfamilie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gezeigt wird. www.menden.de

MM 27
Seit dem späteren 18. Jahrhundert befand sich das Haus für rund ein Vierteljahrtausend in Familieneigentum, bis es im Dezember 2018 an die Stadt Rheine verkauft wurde. Die wiederum vertraute es im Jahr darauf dem eigens gegründeten Verein „Historische Altstadt Rheine e. V.“ an, um das Baudenkmal zu sanieren und als lebendiges Stück Stadtgeschichte für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im September 2024 war es soweit: NRW-Heimat- und Bauministerin Ina Scharrenbach reiste an, durchschnitt zur Eröffnung ein rotes Band und verlegte eigenhändig eine Kachel mit Ziegenmotiv. Mitglieder der Familie Brüning, die in dem Haus ihre Kindheit verlebt hatten, waren ebenfalls gekommen.
Seit der Eröffnung kann sich MM27 über einen lebhaften Publikumszuspruch freuen. MM27? Die Abkürzung steht für die Adresse Münstermauer 27, benannt nach dem ehemaligen Stadttor in Richtung Münster. Das Kürzel ist inzwischen zum Markenzeichen des Projekts geworden, wobei der Hinweis nicht fehlen darf, dass gleich nebenan MM25 steht, ebenfalls ein Mauerhaus mit vorkragendem Obergeschoss. Beide Gebäude werden auch als Traufenhäuser bezeichnet, da sie der Straße nicht den Giebel zuwenden, sondern jeweils die Tropf- oder Triefkante ihres Daches. Wer vom Regen in die Traufe kommt, stolpert bekanntlich von einem Pech ins andere. Das starke Engagement in Rheine ist für MM27 hingegen ein ausgesprochener Glücksfall – gewissermaßen ein Segen für die Traufe.
Text: Ralf J. Günther
Blickpunkt

Die NRW-Stiftung half dem Verein „Historische Altstadt Rheine e. V.“ bei der musealen und digitalen Präsentation des Hauses MM 27. Der Eintritt ist frei, der Verein bietet zudem Führungen zu den Lebens-, Arbeits- und Wohnbedingungen früherer Jahrhunderte an. Auch Kleinkunst und Konzerte sind möglich.
www.historische-altstadt-rheine.de