Wildnis aus zweiter Hand

Das Nationale Naturerbe Standortübungsplatz Büecke

Foto: Matthias Scharf

Ob entlang der einst mit Stacheldraht und Todesstreifen abgeschotteten innerdeutschen Grenze, auf früher scharf bewachten Raketenstellungen für Atomwaffen oder auf den Überresten panzerzerfurchter Truppenübungsplätze: Ausgerechnet auf ehemaligen militärischen Liegenschaften finden sich heute einige der schönsten Naturlandschaften Deutschlands. Denn ungestört von zu viel menschlicher Präsenz und verschont von Straßenbau oder intensivlandwirtschaftlicher Nutzung konnte sich dort in Teilen ursprüngliche Landschaft erhalten oder machte erst die militärische Nutzung das Entstehen wertvoller Lebensräume möglich.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Form von „Wildnis aus zweiter Hand“ findet sich mit der Naturerbefläche Büecke vor den Toren Soests. Auf halber Strecke zwischen der westfälischen Kreisstadt und dem Möhnesee erstreckt sich inmitten der von intensiver Landwirtschaft geprägten Soester Börde auf rund 250 Hektar eine Insel der biologischen Vielfalt. 

Bis zur Aufgabe durch die Bundeswehr um die Jahrtausendwende wurde das Gebiet über viele Jahrzehnte hinweg als Standortübungsplatz genutzt. Anschließend sicherte die Bundesregierung das Areal als Teil des von ihr 2005 aufgesetzten Programms Nationales Naturerbe für den Naturschutz. Seit 2017 ist die Naturerbefläche im Besitz der NRW-Stiftung und wird von der ABU Soest naturschutzfachlich betreut. 

Es klingt auf den ersten Blick paradox, doch vor allem die militärische Nutzung hat hier auf den Höhen des Haarstrangs die Grundlage für eine große Artenvielfalt geschaffen. Der militärische Fahrbetrieb verhinderte eine Verbuschung und der Verzicht auf Dünger bewahrte das Gebiet vor einer zu hohen Nährstoffbelastung, unter der heute weite Teile der Offenlandschaft leiden. So entstand auf einer Fläche von mehr als 200 Hektar eine ausgedehnte Lehmheide-Landschaft, die vor allem durch nährstoffarme sogenannte Magerweiden gekennzeichnet ist, wie sie andernorts selten geworden sind. Artenreiche Wiesen, bewaldete steile Hänge und Hecken- und Gebüschinseln ergänzen das Mosaik aus verschiedenen Lebensräumen inmitten einer der ergiebigsten und am stärksten genutzten Agrarlandschaften Deutschlands. Eine Besonderheit sind auch die Schledden — tief eingeschnittene Trockentäler, die periodisch Wasser führen.

Für das Überleben des größten ökologischen Schatzes des Gebietes haben die auf den ersten Blick so zerstörerisch wirkenden Fahrspuren der Panzer gesorgt. Mit den Regenfällen bildeten sich auf der Hochfläche im von den tonnenschweren Fahrzeugen stark verdichteten Erdreich eine große Zahl an neuen Klein- und Kleinstgewässern, in denen viele Amphibienarten einen neuen Lebensraum und Laichplätze finden konnten. Besonders bedeutsam ist das Naturerbegebiet Standortübungsplatz Büecke für den Erhalt der in Nordrhein-Westfalen vom Aussterben bedrohten und auch bundesweit stark gefährdeten Gelbbauchunke. Hier findet sich einer der letzten westfälischen Vorkommen dieser hübschen Amphibie, deren hellgelb bis orange gefärbte Unterseite von dunklen Flecken durchzogen ist. Das Färbungsmuster jeder einzelnen Unke ist so individuell wie ein Fingerabdruck beim Menschen.

Wie einträchtig Militär und Amphibien koexistieren konnten, zeigt ein Blick in die Archive der Naturschützerinnen und Naturschützer. Zur Zeit des intensiven militärischen Betriebs zu Beginn der 1990er Jahre war die Amphibienvielfalt am größten. 13 verschiedene Arten besiedelten das Gebiet. Heute sind es etwa die Hälfte und gezielte Managementmaßnahmen sollen helfen, den alten Artenreichtum wieder herzustellen. Dazu wurden in den vergangenen Jahren weitere Amphibien-Gewässer geschaffen. Neben der Gelbbauchunke profitieren davon weitere seltene Arten wie der Kammmolch und Geburtshelfer- sowie Kreuzkröte.

Der großräumige Offenland-Biotopkomplex ist auch Lebensraum für zahlreiche bedrohte Vogelarten. So verzeichnet der Wiesenpieper im Naturerbegebiet noch hohe Bestandsdichten. Bundesweit ist die Zahl dieser einst als „Spatz der Wiese“ bezeichneten Singvogelart dagegen in den letzten 30 Jahren um mehr als 70 Prozent zurückgegangen. Auch Feldlerche und Neuntöter konnten sich hier entgegen dem Trend in anderen Regionen in guter Zahl halten. Über den lichten Hangwäldern kreist von Mai bis Ende Anfang September der Wespenbussard.

Das Nationale Naturerbe ist keine eigene Schutzkategorie wie Naturschutzgebiet oder Nationalpark. Viele Naturerbeflächen, auch das Natuerbe Büecke, sind aber wegen ihres ökologischen Wertes zugleich ganz oder in Teilen als Naturschutzgebiet, als Europäisches Vogelschutzgebiet oder als Teil des europaweiten FFH-Schutzgebietsnetzes ausgewiesen. Auch die Überlassung durch den Bund an Stiftungen ist an die Auflage geknüpft, die weitere natürliche Entwicklung zu fördern.

In Büecke bedeutet dies beispielsweise, dass zum Erhalt des halboffenen Charakters der Landschaft große Teile der Hochfläche das ganze Jahr über von urtümlich anmutenden auerochsenähnlichen Rindern und Koniks beweidet werden, einer sehr robusten Pferderasse. Auf einem kleineren Teil werden auch Schafe eingesetzt. Um eine Überweidung zu verhindern, wird die Weidetierdichte aber gering gehalten. Auch die Eichen- und Hainbuchenwälder werden beweidet, um den früheren Charakter als sogenannter Hudewald zu rekonstruieren und das alte Waldbild wieder sichtbar zu machen. Weitere Eingriffe in die natürlichen Entwicklungsprozesse unterbleiben aber. Auf diese Weise entwickelt sich der Wald mit jedem Jahr mehr zu einem Naturwald.

Das Gebiet lässt sich auf zahlreichen Wegen erwandern. Tafeln entlang der Wege vermitteln wissenswerte Informationen und von mehreren Aussichtshügeln lässt sich das weite Umland und die nahegelegene Stadt Soest inklusive aller ihrer Kirchtürme überblicken.

Text: Thomas Krumenacker

 

Blickpunkt

Die als Nationales Naturerbe für den Naturschutz gesicherte Fläche wächst durch Neuzuweisungen weiter. Erst im Juni verabschiedete der Bundestag zuletzt das entsprechende Gesetz und zog eine Bilanz: Nicht weniger als 164.000 Hektar – eine Fläche so groß wie Hamburg und Berlin zusammengenommen – gehören nun zum Naturerbe. In Nordrhein-Westalen gibt es 21 Naturerbegebiete, von denen acht an die NRW-Stiftung übertragen wurden oder noch werden. In der Broschüre „Das Nationale Naturerbe und die NRW-Stiftung“ finden sich Porträts aller acht Gebiete. Sie kann als PDF auf der Internetseite der NRW-Stiftung heruntergeladen oder kostenfrei bestellt werden. www.nrw-stiftung.de