Die Wiedergeburt der Klänge

Die Barockorgel in Höxter-Corvey

Foto: Kirchengemeinde St. Stephanus / Vitus Corvey

Wie klang die Welt vor 350 Jahren? Lässt sich diese Frage überhaupt beantworten? Anders als historische Bilder, Texte und Bauwerke, die sich in großer Zahl erhalten haben, sind die Geräusche der Vergangenheit schließlich längst verweht. Immerhin: Klappernde Mühlen, hallende Glockenschläge oder ratternde Kutschen sind auch heute noch manchmal zu vernehmen. Nicht zu vergessen historische Musikinstrumente, die auf ihre wohltönende Weise aus dem Einst herbeischallen, wenn es ihr Erhaltungszustand denn erlaubt. Wenn nicht, bedarf es großer Anstrengungen, um verlorengegangene Klangbilder wiederzugewinnen — so wie bei der großen Barockorgel in der Abteikirche Corvey.

Der Ausdruck „Chorus“ hat in der Musik verschiedene Bedeutungen. Es kann ein Gesangschor gemeint sein oder ein technischer Klangeffekt, etwa bei elektrischen Gitarren. Im Jazz versteht man unter einem Chorus traditionell eine musikalische Strophe. Seit dem Jahr 2007 gibt es außerdem das „Corveyer Hilfswerks Orgel-Rettung Und Sicherung“, kurz: CHORUS. Denn der Klosterbezirk Corvey bei Höxter, der seit 2014 zum Weltkulturerbe zählt, ist nicht allein durch das Westwerk seiner Abteikirche berühmt, das in Teilen unter Ludwig dem Frommen, dem Sohn Karls des Großen, erbaut wurde. Es gibt hier noch viele andere Schätze, darunter die kostbare Barockorgel.

Blech stört Barock

Ein Hilfswerk zur Rettung und Sicherung — das hört sich dramatisch an. Doch ging es tatsächlich darum, die Corveyer Orgel aus einem bedenklichen Zustand zu erlösen, der auf Dauer wohl ihren Untergang bedeutet hätte. Nicht nur dass immer mehr der historischen Orgelpfeifen durch Bleiacetat, den sogenannten Bleizucker, zerfressen wurden. Bei einer Restaurierung in den 1960er Jahren war auch das Klangbild des Musikinstruments stark verändert worden. Die damals verwendeten Techniken und Materialien entsprachen vielfach nicht den Anforderungen an eine Barockorgel. Man baute zum Beispiel zahlreiche Ersatzpfeifen ein, die im Vergleich zu den historischen Originalen dünn wie Blech waren. Das Instrument quittierte das mit einem oftmals matten und leblosen Klang, es reagierte überdies zunehmend schwerfällig. All das geschah ausgerechnet einem Meisterwerk westfälischer Orgelbaukunst, das nicht nur in, sondern auch von einem Westfalen gefertigt wurde. Gemeint ist der etwa 1646 in Dortmund geborene Andreas Schneider, einer der großen Könner seiner Zunft, der ab 1676 eine Werkstatt in Höxter betrieb. Den Corveyer Auftrag erhielt er fünf Jahre später, der Originalvertrag liegt noch vor. Schneider verpflichtete sich darin, eine Orgel mit zwei Manualen sowie Pedal und insgesamt 32 Registern zu bauen. Er lieferte neben diesem Hauptinstrument sogar noch eine kleinere Chororgel, die allerdings schon 1823 nach Amelunxen an der Weser versetzt wurde.


Monate der Intonation

1683 war Schneiders Auftrag erfüllt. Wie für westfälische Barockorgeln typisch hatte er die Windlade — das Herzstück einer traditionellen Orgel, das die Luftströme auf die Pfeifen verteilt ­— mit aufwendiger Feder- und Ventilmechanik ausgestattet, als sogenannte Springlade. In späteren Jahrhunderten wurde sein Werk dann jedoch mehrfach verändert, bis hin zur missglückten Restaurierung der 1960er Jahre. Fünf Jahre und eine knappe Million Euro waren notwendig, um die Verfälschungen rückgängig zu machen. Der Förderverein Chorus warb ein gutes Drittel dieser Summe selbst ein, fast genauso viel übernahm auf seinen Antrag hin die NRW-Stiftung, Bund und Kirche beteiligten sich ebenfalls.

Die niederländische Firma Flentrop führte die Restaurierung aus, für die man sich sogar auf alte Baupläne stützen konnte. Im Sommer 2020 kehrte das Instrument aus der Werkstatt zurück nach Corvey, wo es seinen angestammten Platz auf der Kirchenempore hat. Doch die Arbeit war damit noch nicht zu Ende. Mehrere Monate dauerte allein die Intonation des Instruments, das heißt die exakte Abstimmung von Timbre und Lautstärke. Am 12. Juni 2021 konnte schließlich die offizielle Einweihung gefeiert werden. Mit ihrem prachtvollen Prospekt — so nennt man die Schauseite einer Orgel — ist das Corveyer Meisterinstrument auch ein eindrucksvolles  Werk der bildenden Kunst. Als tönendes Denkmal aber gibt es uns etwas davon preis, wie die Welt vor fast 350 Jahren geklungen hat.

Text: Ralf J. Günther

 

Blickpunkt

Die NRW-Stiftung half dem Förderverein „Corveyer Hilfswerk Orgel-Rettung und Sicherung“, kurz CHORUS, bei der Restaurierung der großen Orgel in der ehemaligen Klosterkirche Corvey in Höxter an der Weser. Hier geht`s zur Orgelintonation ►