Das Werden NRWs in 40.000 Bildern

Fotoarchiv Wolff & Tritschler

Foto: www.grevenarchivdigital.de

Foto: www.grevenarchivdigital.de

Ein Bummel auf der Düsseldorfer Königsallee, ein Abstecher zum Aachener Elisenbrunnen, eine Fahrt über die Krefeld-Uerdinger Brücke – sämtlich fotografiert in einem NRW, das erst wenige Jahre zuvor gegründet worden war. Die Bilder stammen von den international renommierten Fotografen Paul Wolff und Alfred Tritschler. Mehr als 40.000 Schwarzweiß- und Farbaufnahmen aus dem von ihnen hinterlassenen Archiv werden bis 2024 mithilfe der NRW-Stiftung digitalisiert und unter der Überschrift „Die Geburt Nordrhein-Westfalens“ im Netz frei zugänglich gemacht.

Nicht jedes Bild sagt mehr als tausend Worte, doch selbst viele Tausend Worte könnten nicht unmittelbar veranschaulichen, wie die Welt früher einmal aussah. Von 40.000 Bildern allein aus dem rheinisch-westfälischen Raum darf man sich hingegen ein Mosaik mit vielen Facetten versprechen. Hervorzuheben ist dabei: Auch Nordrhein-Westfalen wurde nicht an einem Tage erschaffen. Zwar gibt es ein offizielles Gründungsdatum, den 23. August 1946, doch abgesehen davon, dass das Land Lippe erst 1947 hinzukam, vereinigte die Neugründung unterschiedliche Regionen, die alle ihre eigene Geschichte hatten und eine neue gemeinsame Geschichte erst schreiben mussten. Unter der „Geburt Nordrhein-Westfalens“ ist hier also kein einzelner historischer Moment zu verstehen, sondern vielmehr eine Entwicklung, die sich in vielfältigen Momentaufnahmen aus einem längeren Zeitraum spiegelt.

Die Welt im Kleinbild

Der 1887 geborene, 1951 verstorbene Paul Wolff war ein Pionier der Kleinbildkamera. Sein 1934 erstmals erschienenes Buch „Meine Erfahrungen mit der Leica“ zählt zu den meistgelesenen Titeln der Lichtbildliteratur. Zusammen mit dem achtzehn Jahre jüngeren Alfred Tritschler gründete er 1927 während der Weimarer Republik ein Bildarchiv, das sich rasch zu einem Unternehmen von internationaler Bedeutung entwickelte. Die Firma „Dr. Paul Wolff & Tritschler“ arbeitete vor allem für Industrieunternehmen, Verlage, Werbebüros und Illustrierte, darunter das US-Magazin „Life“. Bei einem Bombenangriff 1944 wurden am Firmensitz in Frankfurt zwar die meisten der Fotoplatten zerstört, die Wolff und Tritschler verwendet hatten. Das maßstabsetzende Kleinbildarchiv mit Aufnahmen aus Deutschland und der Welt blieb jedoch erhalten. Es liegt heute in Offenburg und umfasst rund eine halbe Million Negative von 1927 bis 1970, dem Todesjahr Alfred Tritschlers.

Nach dem Urteil des Kunsthistorikers und Fotografie-Experten Professor Klaus Honnef ist das Archiv in exzellentem Zustand. Das ist umso erfreulicher, als die Arbeiten von Wolff und Tritschler nicht nur in technischer, sondern auch in gestalterischer und dokumentarischer Hinsicht Maßstäbe setzten. Honnef verweist zum Beispiel auf ein fotografisches Porträt der Landeshauptstadt Düsseldorf aus den 1950er Jahren: „Pulsierendes Stadtleben vergegenwärtigen die Kameras mit vielen Straßenszenen, Menschen bei der Arbeit und in der Freizeit, mit Aufnahmen vom Rhein, der wichtigen deutschen Verkehrsschlagader, und seinen Schiffen, den Schleppern und einer langen Reihe von Schleppkähnen in ihrem Kielwasser und den Vergnügungsbooten.“ Kaum weniger spannend ist eine Serie von 370 Fotografien, in der die komplette Funktionsweise eines großen Kölner Warenhauses vor und hinter den Kulissen erfasst wird. Die Schärfentiefe vieler Bilder nennt Honnef „atemberaubend“.

Geschichte zum Anschauen

Die von Paul Wolff und Alfred Tritschler im rheinisch-westfälischen Raum gemachten Fotos entstanden zwischen 1928 und 1963. Sie zeigen Alltagssituationen und Ortsansichten, Arbeitswelten und Landschaftsbilder, Sport, Industrie, Technik, Theater, Kunst und Architektur. Oft ging es darum, flüchtige Augenblicke festzuhalten, es fehlt aber auch nicht an sorgfältigen Bildkompositionen. Die Menge und vor allem die Qualität des Materials weckte das Interesse der „Irene und Sigurd Greven-Stiftung“, die nach dem Kölner Verleger Sigurd Greven (gest. 1981) und dessen Frau Irene (gest. 2015) benannt ist. Die Stiftung betreibt die Internetseite „Greven Archiv Digital“, auf der große Bestände eingescannter Bilder und Dokumente insbesondere mit Bezug zum Rheinland verfügbar sind. Der von der NRW-Stiftung geförderte Bereich: „Die Geburt von Nordrhein-Westfalen. Industrie, Landschaft, Kultur“ wird derzeit noch aufgebaut, rund ein Viertel des Materials ist aber bereits online.

Unterstützt wird das Vorhaben außer von der NRW-Stiftung vom „Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen“, einer selbständigen Stiftung des Landes, die ihren Sitz in Düsseldorf hat. Sie richtet im dortigen Behrensbau, der 1912 für die Verwaltung der Mannesmann AG erbaut wurde und von 1946 bis 1953 als Sitz der NRW-Staatskanzlei diente, eine Dauerausstellung über Nordrhein-Westfalen von den Anfängen bis heute ein. Leitgedanke: Demokratie, Vielfalt, Wandel. Ohne umfangreiche Fotobestände wäre weder dieses Vorhaben zu verwirklichen, noch die Gestaltung von Printpublikationen und Sonderschauen wie etwa der bereits realisierten Jubiläumsausstellung zum 75. Jahrestag der NRW-Gründung.

Betrachten und kommentieren

Nach Anmeldung lassen sich im „Greven Archiv Digital“ auch Kommentare hinterlegen. Denn historische Fotografien beantworten nicht nur Fragen, sie werfen nicht selten zugleich Fragen auf, etwa hinsichtlich exakter Datierungen, genauer Ortsangaben oder Hintergrunddetails. Wer zu einzelnen Bildern Hinweise geben oder Beobachtungen mitteilen möchte, kann dies auf der Greven-Seite tun. Nordrhein-Westfalen hat 2023 seinen 77. Geburtstag gefeiert – noch kein biblisches Alter. Insbesondere zu den 25.000 Bildern des Gesamtkorpus, die aus den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg stammen, könnten daher viele Zeitzeugen sicherlich sogar aus eigener Erinnerung Wissenswertes beisteuern.

grevenarchivdigital.de

Text: Ralf J. Günther