Vom Brennpunkt des Kalten Krieges zur Oase für Natur und Mensch: Die Steinheide hat in ihrer wechselvollen Geschichte viel erlebt. Während der Jahrzehnte der Ost-West-Konfrontation als militärische Liegenschaft mit Abschussvorrichtungen für Atomraketen abgeschirmt, erhält das rund 70 Hektar große Waldgebiet heute als Teil des Nationalen Naturerbes die Chance, sich wieder ganz nach den Gesetzen der natürlichen Entwicklung zu entfalten.
Wie der Hambacher Forst gehört die Steinheide zu den einst für diese Landschaft charakteristischen Bürgewäldern. Der schon vor mehr als 1.000 Jahren urkundlich erwähnte Wald-Komplex zählte zu den ältesten und größten Mischwäldern Mitteleuropas. Doch der Braunkohletagebau hat das Gesicht der Landschaft in der Jülich-Zülpicher Börde in den vergangenen Jahrzehnten gründlich verändert. Nicht nur ganze Ortschaften mussten weichen – auch der allergrößte Teil der einst mehr als 5.000 Hektar großen Bürgewälder fiel den Baggern zum Opfer. Von den einstmals so typischen Eichen- und Hainbuchenbeständen blieben nur Reste übrig. Diese verbliebenen „Inselbiotope“ sind als letzte Refugien für waldbewohnende Tier- und Pflanzenarten in der Region nun umso bedeutender.
Das Nationale Naturerbe Steinheide ist einer der wertvollsten dieser verbliebenen Restwälder. Gemeinsam mit den benachbarten Wäldern Dickbusch und Lörsfelder Busch bildet das 71 Hektar große Naturerbegebiet neben der Ville heute das letzte größere Waldgebiet in der Niederrheinischen Bucht. Zusammen sind sie als knapp 450 Hektar großes europäisches FFH-Schutzgebiet seit 2004 gesichert.
Militärische Nutzung verhinderte Zerstörung
Vor den Baggern des Tagebaus und anderen Begehrlichkeiten rettete die Steinheide vor allem ihre Nutzung als militärische Liegenschaft. Der Waldkomplex war im Kalten Krieg als Abschussbasis für Pershing-Mittelstreckenraketen mit atomaren Sprengköpfen vorgesehen. Im „Ernstfall“ wären die Raketen per Lkw vom nur wenige Kilometer entfernten Fliegerhorst Nörvenich zur Raketenstellung in der Steinheide gefahren und von dort aus abgeschossen worden: Ausgerechnet die Vorbereitung auf das apokalyptische Szenario eines Atomkrieges schützte den Wald vor menschlichen Eingriffen.
Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor die Raketenstellung ihren militärischen Zweck – nicht aber ihren ökologischen Wert als Refugium für andernorts selten gewordene Tier- und Pflanzenarten. Um sie zu bewahren, übertrug der Bund die Liegenschaft an die NRW-Stiftung. Diese verpflichtete sich im Gegenzug, fortan die Pflege und Entwicklung der Flächen als Nationales Naturerbe im Sinne des Naturschutzes zu übernehmen.
Als militärisches Sperrgebiet unzugänglich eingezäunt und als reine Raketen-Abschussbasis nur vergleichsweise wenig durch Umweltgifte und militärische Infrastruktur belastet, überdauerte der teilweise mehr als 150 Jahre alte Wald weitgehend unbeschadet das mittlerweile historische Kapitel des Kalten Krieges, auf dessen Höhepunkt Hunderttausende Menschen im nahen Bonn gegen die Stationierung von Atomraketen auch in der Steinheide demonstrierten.
Heute kommt dem Naturerbegebiet als einem der letzten verbliebenen naturnahen Altwälder der Region eine überregionale ökologische Bedeutung zu. Viele auf den Lebensraum Wald angewiesene Arten finden hier Zuflucht, nachdem ihre angestammten Siedlungsgebiete durch den Braunkohletagebau vernichtet wurden. Im Zusammenspiel mit den benachbarten Waldinseln ist die Steinheide gleichzeitig auch für wandernde Tiere ein wichtiger Trittstein im landesweiten Biotopverbund. Schließlich wird der Wald als Ausgangspunkt für die künftige Wiederbesiedlungen der rekultivierten Abbauflächen nach dem absehbaren Ende des Braunkohletagebaus eine Schlüsselrolle spielen.
Landschaftlich beherrschen Eichen und Hainbuchen die Szenerie in der Steinheide. Dieser Lebensraumtyp ist in ganz Europa stark bedroht und steht deshalb unter besonderem Schutz der europäischen Fauna-Flora-Habitat (FFH)-Schutzverordnung. Um das Gebiet langfristig ökologisch noch weiter aufzuwerten, sieht das Entwicklungskonzept eine Vielzahl konkreter Managementmaßnahmen für die Steinheide vor. So sollen durch Aufforstungen entstandene Parzellen mit nicht standorttypischen Nadelbaumarten weichen, um Platz für die ursprünglichen und für den Niederrhein typischen Wälder aus von Maiglöckchen durchsetzten Eichen- und Buchenbeständen zu schaffen.
Die älteren Waldbereiche, die sich schon jetzt in einem naturnahen Zustand befinden, sollen sich dagegen ohne direkte Eingriffe in die natürlichen Entwicklungsprozesse zu Naturwäldern fortentwickeln dürfen. So werden abgestorbene Bäume im Wald belassen, damit sich im langsam zerfallenden Totholz neuer Lebensraum für eine Vielzahl von Insekten entwickeln kann. Um die Renaturierung zu fördern und den natürlichen Wasserhaushalt des Waldbodens wiederherzustellen, werden zur Entwässerung angelegte Drainagen verschlossen und damit auch trocken gefallene Biotope wiedervernässt.
Mit diesen und weiteren Managementmaßnahmen sollen auch die Überlebenschancen für viele selten gewordene Tier- und Pflanzenarten erhöht werden. Schon jetzt finden aber zahlreiche Arten überdurchschnittlich gute Biotope vor. So hat eine wissenschaftliche Analyse der mit alten Eichen bestandenen Bereiche der Steinheide ergeben, dass dort eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Spechthöhlen zu finden ist. Die von Spechten gezimmerten Wohnstuben gelten als Indikator für einen guten ökologischen Zustand eines Waldes. Von den von Schwarz-, Bunt- und Mittelspecht angelegten Höhlen profitieren neben deren Artgenossen auch viele Tierarten, die selbst nicht zum Höhlenbau in der Lage sind – neben Hohltauben, Meisen und anderen Singvögeln sind dies vor allem Fledermäuse. Wohnungsmangel ist für sie eines der größten Probleme. Das scheint im Naturerbegebiet Steinheide jedoch im Griff: Mit Großem Mausohr, Großer Bartfledermaus, Kleinem Abendsegler und der Bechsteinfledermaus durchstreifen hier gleich vier in Nordrhein-Westfalen stark gefährdete Fledermausarten den nächtlichen Wald.
Text: Thomas Krumenacker
Blickpunkt
Der Bund hat zahlreiche ehemalige militärische Liegenschaften aus der Zeit des Kalten Krieges und der deutschen Teilung zum Nationalen Naturerbe erklärt. Wichtigster Zweck dieser Gebiete ist es, der Natur die freie Entfaltung zu ermöglichen und damit einen Beitrag zum Erhalt der biologischen Vielfalt zu leisten. Naturerbeflächen bedecken mittlerweile fast 170.000 Hektar. In Nordrhein-Westfalen gibt es 21 Naturerbe-Gebiete – für acht von ihnen hat die NRW-Stiftung die dauerhafte Verantwortung übernommen.
www.nrw-stiftung.de/entdecken/nationales-naturerbe