Auf rund 60 Hektar Fläche entsteht an der Grenze zu Belgien südlich von Aachen derzeit der Urwald von morgen. NRW-Stiftung und NABU lassen sich den Freyenter Wald zu einem Wildnisgebiet entwickeln, in dem das Ökosystem Wald nach eigenen Regeln funktioniert. Das fördert die Artenvielfalt und macht den Wald widerstandsfähiger gegen die Folgen des Klimawandels.
Waldwildnis vor den Toren der Großstadt: Südlich von Aachen erhält die Natur derzeit im Wortsinn „grünes Licht“ für eine natürliche Entwicklung. Im Freyenter Wald in der Gemarkung Lichtenbusch geben künftig ausschließlich ökologische Prozesse den Takt vor. Was umfällt, bleibt liegen und wird der Zersetzung durch Insekten, Pilze und Mikroorganismen überlassen. Was nachkommt, darf wachsen. So lässt sich das Konzept vereinfacht beschreiben, mit dem die NRW-Stiftung und der Stadtverband Aachen des NABU den auch in Teilen des Landeswaldes bereits praktizierten Renaturierungsgedanken für die Wälder in Nordrhein-Westfalen unterstützen. Hinter diesem Ansatz steht der Gedanke eines umfassenden Schutzes der Biodiversität in einem Ökosystem. Nicht einzelne Tier- oder Pflanzenarten stehen – wie beim Artenschutz – im Mittelpunkt der Bemühungen, sondern das Zusammenspiel der gesamten biologischen Vielfalt des Lebensraums und seiner Bewohner – vom kleinsten Moos bis zum ältesten Baum, vom Käfer bis zum Vogel, der sich von ihm ernährt. „Prozessschutz“ nennt sich dieser Ansatz, der darauf abzielt, dem Ökosystem Wald seine in Jahrhunderten der intensiven Nutzung in Teilen verlorengegangene Funktionsfähigkeit zurückzugeben – und ihn damit auch widerstandsfähiger gegen die Folgen des Klimawandels wie Stürme und Dürren zu machen.
Die wichtigste Maßnahme: Nichts tun
Kernmaßnahme auf dem Weg zum Urwald von morgen ist der Verzicht auf jegliche wirtschaftliche Nutzung. Um das zu ermöglichen, erwarb die NRW-Stiftung gemeinsam mit dem NABU-Stadtverband Aachen das rund 60 Hektar große Waldgebiet unmittelbar an der Grenze zu Belgien bereits im Jahr 2020. Für den Kauf stellte die NRW-Stiftung 930.000 Euro zur Verfügung, der NABU brachte einen Betrag von knapp 100.000 Euro auf. Um die sich neu entwickelnde Waldwildnis dauerhaft zu sichern, soll das Gebiet im neuen Landschaftsplan zudem als Naturschutzgebiet ausgewiesen werden.
„Schon heute ist der Freyenter Wald ein kleiner Naturschatz“, sagt Dr. Manfred Aletsee. Der Geschäftsführer der NABU-Naturschutzstation Aachen und Betreuer des Gebietes sieht im Freyenter Wald beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umwandlung in eine Waldwildnis. Vor allem die bereits relativ naturnahe forstliche Nutzung durch die belgische Gemeinde Raeren als bisheriger Besitzerin verschaffe großen Teilen des Gebietes eine günstige Ausgangsposition, ist Aletsee überzeugt. So hätten die Vorbesitzer kein umfangreiches Wanderwegenetz angelegt und die Freizeitnutzung beschränke sich im Wesentlichen auf Spaziergänger aus den anliegenden Orten. Ohnehin federten der viel stadtnähere und um mehr als dreißigmal so große Aachener Stadtwald sowie die nahe gelegene Eifel den Besucherdruck stark ab. Auch seine kompakte Form – der Wald ist annähernd quadratisch – ist von Vorteil, weil dadurch lange Waldränder hin zu intensiv landwirtschaftlich genutzten Flächen fehlen, über die für den Wald schädlicher Stickstoff eingetragen wird.
„Von den 60 Hektar Gesamtfläche sind zwei Drittel sehr naturnaher Wald, nur etwa ein Drittel besteht aus naturfernem Forst“, analysiert der Projektleiter. Der ökologische Wert des relativ kleinen Waldes lässt sich auch an den Tier- und Pflanzenarten ablesen, die schon heute im Freyenter Wald vorkommen. Im zeitigen Frühjahr ist der Waldboden zwischen den alten Eichen, Erlen und Eschen mit Teppichen von Buschwindröschen und Maiglöckchen überzogen. Auch seltene Orchideenarten wie die Grünliche Waldhyazinthe blühen im lichten Laubwald. Dort finden auch Schmetterlinge wie der Kaisermantel und Vogelarten wie Habicht und Rotmilan ungestörte Rückzugsräume. Mit bis zu acht Brutpaaren stellt der mit Blick auf seinen Lebensraum sehr wählerische Mittelspecht dem ökologischen Zustand des Waldes schon jetzt ein gutes Zeugnis aus. Seine Lage zwischen intensiv genutztem Offenland, dem Aachener Stadtwald und der Eifel macht den Freyenter Wald auch zu einem wichtigen Verbindungsglied für Waldbiotope, die Tierarten wie der Wildkatze eine Ausweitung ihrer Vorkommen ermöglichen.
Naturschutz mit und nicht gegen Menschen
Eine neben den ökologischen Aspekten weitere entscheidende Voraussetzung für den Erfolg des Projekts sieht Aletsee ebenfalls gegeben: „Die Akzeptanz ist da, sowohl bei der Bevölkerung wie auch bei den Behörden und politischen Vertretungen“, hat der NABU-Mann in zahlreichen Gesprächen erfahren. Eine mit Bekanntwerden der Pläne für eine Waldwildnis von Bürgerinnen und Bürgern geäußerte Sorge kann er sofort zerstreuen: „Der Wald wird nicht gesperrt“, stellt Aletsee klar. Mit der Ausweisung als Naturschutzgebiet gelte fortan das Gebot, auf den Wegen zu bleiben und Hunde anzuleinen – ein Verhalten, das aus Rücksicht auf Tiere, Pflanzen und Mitmenschen ohnehin üblich sein sollte. „Aber wir wollen den Wald ganz ausdrücklich zugänglich halten“, versichert Aletsee. Künftig soll es deshalb auch Angebote zur Umweltbildung im Wald geben. „Waldnaturschutz macht keinen Sinn, wenn man die Menschen nicht darüber aufklärt, was einen Wald so besonders macht.“
Starthilfe mit der Motorsäge
Noch wird der Freyenter Wald indes nicht komplett sich selbst überlassen. Denn trotz einer relativ nachhaltigen Nutzung, gibt es auch im Freyenter Wald einige waldbauliche Sünden der Vergangenheit: Dazu gehört vor allem die Anpflanzung gebietsfremder Baumarten, die nicht zum hiesigen Ökosystem passen. Seit zwei Jahren laufen deshalb sogenannte Erstpflegemaßnahmen, die der natürlichen Entwicklung einen „Booster“ geben sollen. Entwässerungsgräben werden verschlossen, und die Mischbestände aus Fichten und ursprünglich aus Nordamerika stammenden Douglasien werden entfernt, damit sich die dazwischen sprießenden einheimischen Birken, Weiden und Erlen entfalten können. „Es ist erstaunlich, wie schnell sich der Laubwald hier wieder entwickelt“, freut sich Aletsee über sichtbare Erfolge nach kurzer Zeit.
Urwald, Waldwildnis, Naturwald – viele Namen für den Wald von vorgestern, der auch der Wald von morgen sein wird: Diese Erkenntnis setzt sich immer stärker durch. Denn Naturwälder leisten einen wichtigen Beitrag zum Artenschutz und sind gleichzeitig viel widerstandsfähiger gegen die Folgen des Klimawandels. Naturschützer Aletsee ist sich sogar sicher, dass Naturwaldflächen auch für die Wirtschaftswälder unerlässlich sind. „Nur in diesen Flächen können sich im Totholz noch Quellpopulationen wichtiger Organismen für das Waldökosystem erhalten, die dann auch die Bäume im Wirtschaftswald schützen.“
Text: Thomas Krumenacker
Blickpunkt
Naturnahe Wälder werden in Zeiten des zunehmenden Klimawandels immer wichtiger als Refugien für die Natur und für Menschen, die die stille und schattige Erholung suchen. Um die Entstehung einer Waldwildnis zu ermöglichen, erwarb die NRW-Stiftung 2020 gemeinsam mit dem NABU Aachen den 60 Hektar großen Freyenter Wald. Für den Kauf stellte die NRW-Stiftung 930.000 Euro zur Verfügung, der NABU brachte knapp 100.000 Euro auf.
www.naturschutzstation-aachen.de/freyenter-wald