Umsteigen auf neue Ideen

Bahnhofsgeschichten

Foto: Dorfverein Hützemert e. V.

Ab etwa 1840 schnauften die ersten Dampfloks durch Rheinland und Westfalen, Wegbereiter eines Schienenverkehrs, der die Regionen an Rhein, Ruhr und Weser im Laufe des 19. Jahrhunderts enger miteinander verband als je zuvor in ihrer Geschichte. Viele kühne Bahnbauten von damals sind bis heute in Betrieb, zum Beispiel die 1894 aus Stahl und Glas errichtete Bahnsteighalle des Kölner Hauptbahnhofs. Doch sogar längst stillgelegte kleinere Bahnhofsgebäude lassen sich mit kreativen Ideen neu beleben. Die NRW-Stiftung unterstützt ehrenamtliche Initiativen rund um historische Schalterräume, Wartesäle und Schuppen.

Im Dezember 1835 begann der Eisenbahnverkehr in Deutschland mit der Fahrt des legendären Dampfrosses „Adler“ von Nürnberg nach Fürth. Zwar gab es „Eisen-­Bahnen“, die bewusst so genannt wurden, auf NRW-Boden schon etwa fünf Jahre früher. Doch obwohl die Wagen der Harkort’schen Kohlenbahn bei Hagen oder der Deilthaler Eisenbahn bei Essen bereits auf Metallgleisen von mehreren Kilometern Länge liefen – gezogen wurden sie noch von Rössern aus Fleisch und Blut. Erst Dampflokomotiven glitten auf eisernen und bald sogar stählernen Fernwegen dahin wie Schiffe auf großen Flüssen. So erklärt sich zugleich die Bezeichnung „Eiserner Rhein“ für eins der Pionierprojekte des Lok-Zeitalters.

Ausflugsziel Bahnhof

Mit dem Eisernen Rhein wurde Ende der 1830er Jahre die siebte deutsche Bahnlinie unter Dampf in Angriff genommen, überdies die erste internationale weltweit, denn die Strecke sollte von Köln nach Belgien führen. Erbauerin war die Rheinische Eisenbahn­gesellschaft, die zunächst aber nur einen kurzen Abschnitt eröffnete. Er verlief zwischen der Station „Am Thürmchen“ in Köln und dem gerade einmal sieben Kilometer entfernten, damals noch eigenständigen Ort Müngersdorf. Unweit des heutigen Kölner Bundesligastadions wartete hier seit 1839 der „Bahnhof Belvedere“ auf die Fahrgäste, dessen Stationsgebäude in einem Park hoch über den Gleisen lag. Wer den Anstieg geschafft hatte, konnte das Abenteuer Bahnfahrt mit einem Gaststättenbesuch und mit malerischen Fernblicken auf den Kölner Dom krönen – für den neuartigen Schienenverkehr eine beachtliche Werbung.

Das klassizistische Müngersdorfer Stationsgebäude – gestaltet im Geist des berühmten preußischen Baumeisters Karl Friedrich Schinkel – ist das älteste, weitgehend original erhaltene Bahn­hofsbauwerk Deutschlands. Es wurde nie ersetzt, weil der Bahn­betrieb in Müngersdorf nur für einige Jahrzehnte blühte. Als man in Köln 1859 den ersten Zentralbahnhof und die erste Eisenbahnbrücke einweihte, spielte der Ausflugsverkehr zum Belvedere schon keine Rolle mehr. Das Stationsgebäude wurde später Eigentum der Domstadt, die es über ein Jahrhundert lang als Wohnhaus vermietete. Leider blieb es nicht vom Nazi-Terror verschont: Das Dritte Reich ließ die Eheleute Klara und Fritz Stoffels, die seit 1935 in dem Bahnhof lebten, 1944 als bekennende Zeugen Jehovas hinrichten.

Es ist dem „Förderkreis Bahnhof Belvedere e.V.“ zu verdanken, dass die denkmalgeschützte Station nach dem Tod des letzten Mieters im Jahr 2009 nicht wie geplant verkauft wurde. Unter dem Vorsitz von Sebastian Engelhardt, Cellist im WDR-Sinfonieorchester, überzeugte der Verein Stadt, Spender und Sponsoren von der Idee, die historische Stätte für die Öffentlichkeit zu erhalten. In Vereinshand erfolgte danach die aufwendige Sicherung des Gebäudes, das sich – zur Überraschung aller, – wie die Baubeauftragte Elisabeth M. Spiegel verrät – hinter seinen Verschalungen als Fachwerkkonstruktion entpuppte. 2019 starteten die erforderlichen Umbauten für die künftige Nutzung als barrierefreier Kultur- und Veranstaltungstreff mit Angeboten auch für ältere Menschen. Betretbar ist das Baudenkmal vorläufig noch nicht, dafür lohnt aber ein Abstecher in den nahen „Landschaftspark Belvedere“, wo mehrere Aussichtspunkte Blicke auf den Kölner Dom bieten wie anno 1839 – fast zumindest, denn damals grüßte die Kathedrale noch unvollendet ins Land.

Kultur in Kettwig

Die wohl wichtigste Strecke des frühen rheinisch-westfälischen Bahnbaus war die Verbindung vom Rhein zur Weser. Sie wurde von der 1843 gegründeten Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft realisiert, deren Trasse allerdings für manchen Unmut sorgte. So wurde die Station „Essen CM“ – CM für Cöln-Minden – im abgelegenen Dorf Altenessen errichtet, während Essen selbst erst 1862 einen Bahnhof erhielt, gebaut von der Bergisch-Märkischen Eisenbahngesellschaft. Letztere band mit der sogenannten Ruhrtalbahn später weitere Orte auf heutigem Essener Gebiet an, darunter Kettwig, unseren nächsten Stopp.

In Kettwig gibt es seit 1968 nur noch eine S-Bahn-Haltestelle, weshalb Fahrkartenschalter, Expressgutannahme, Wartesäle und Gaststätte nicht mehr benötigt wurden. Das 1872/73 erbaute Kettwiger Stationsgebäude schloss daher 1977 seine Pforten und stand in der Folge für zwanzig Jahre leer. Zum Glück entschloss sich die „Interessengemeinschaft Bahnhof Kettwig e.V.“ 1997,
den Bau mit den rundbogigen Fenstern, dem Dreiecksgiebel und den niedrigen Seitenflügeln vor dem Verfall zu bewahren. Die Pläne für einen Bürger-, Sport- und Kulturbahnhof fanden vor Ort viel Unterstützung, zudem flossen Mittel aus dem NRW-Programm „Initiative ergreifen“ sowie Gelder der Krupp-Stiftung.

Seit der Neueröffnung 2003 erleben jährlich bis zu viertausend Menschen Konzerte, Kabarett und andere Veranstaltungen im „Alten Bahnhof“ – über vierzigtausend besuchen hier Sport-, Tanz-, Sprach-, Integrations- und Kreativkurse. Ermöglicht wird diese Vielfalt durch rund dreißig Vereine und Initiativen. Die IG um den Vorsitzenden Wolfgang Lettow, die den Gebäudebetrieb sichert, kann sogar darauf verweisen, dass Veranstaltungen und Vermietungen unter Normalbedingungen die laufenden Kosten decken. Grund genug also, um 2022 stolz ein Doppeljubiläum zu feiern: 150 Jahre Bahnhof Kettwig, 25 Jahre Interessengemeinschaft.

Museum mit Bahnanschluss

Der Blick geht nun nach Westfalen, wo Münster – immerhin die westfälische Provinzialhauptstadt – 1848 nur mittels Zubringer nach Hamm Anschluss an das Köln-Mindener Eisenbahnnetz gefunden hatte. Erst nach und nach kamen weitere Linien hinzu, darunter in den 1870er Jahren eine Verbindung Richtung Gronau und Enschede, die zwar immer eingleisig blieb und nie elektrifiziert wurde, dafür aber ihre eigene Stilllegung überlebte. Nach längerer Unterbrechung in den 1980/90er Jahren kehrten die Züge auf die Schienen zurück. Sie halten seitdem auch wieder in Metelen, Kreis Steinfurt – allerdings nicht mehr an einem Bahnhof, sondern an einem Bahnhofsmuseum.

Der 1875 eröffnete Bahnhof Metelen Land, der in seinen frühen Tagen der lokalen Textilindustrie viel Auftrieb gegeben hatte, wurde 1984 zum Haltepunkt herabgestuft. Die Bundesbahn wollte das Stationsgebäude mit dem Fachwerk-Obergeschoss damals abreißen, doch die Gemeinde Metelen entschied sich dafür, es zu erwerben und der örtlichen „Eisenbahn-Interessen-Gemeinschaft“ anzuvertrauen. Die EIG richtete 1988 ein Museum darin ein, das 2019 nach einer Gebäudesanierung mithilfe der NRW-Stiftung neu eröffnet werden konnte. Es zeigt unter anderem eine funktionsfähige Stellwerk-Hebelbank und einen detailgetreuen Fahrdienstleiterraum. Nachdem dem Betreiberverein zeitweise das Fehlen jüngerer Kräfte Sorgen gemacht hatte, ist dieses Problem inzwischen gelöst – Vorstandswahlen stehen an, und das Museum wird ab Frühjahr 2023 wieder regelmäßig öffnen.

RadBahn frei!

Wir bleiben im Münsterland, denn von Metelen sind es nur zwanzig Kilometer bis nach Darfeld, einem Ortsteil der Gemeinde Rosendahl im Kreis Coesfeld. Das beeindruckende Darfelder Wasserschloss ist weithin bekannt. Aber warum verlief hier, mitten in Westfalen, einst eine „Rheinische Bahn“? Nicht etwa, weil die Strecke die Stadt Rheine berührte, Namenspatin war vielmehr die Rheinische Eisenbahngesellschaft, die die Trasse 1879 als Teil der Verbindung Duisburg-Quakenbrück eröffnete und so die Möglichkeit schuf, auf rheinischer Bahn nach Rheine zu rattern. Zugegeben – heutzutage ist das nur noch eine Anekdote, die Strecke, an der Darfeld liegt, wird seit über dreißig Jahren nicht mehr betrieben. Ein jahrzehntelanger Leerstand wie im Falle Kettwigs blieb dem Darfelder Stationsgebäude jedoch erspart. Seit 1991 fungiert es als Heimat- und Bürgerhaus und ist inzwischen sogar der Mittelpunkt eines „Generationenparks“.

Das Prinzip dieses Parks erklärt sich an einem schönen Tag ganz von selbst: Gegenüber vom Stationsgebäude werden dann auf einem Bouleplatz ruhige Kugeln geschoben, während Neugierige die kostenlose Ausstellung im „multifunktionalen Siedlungshaus“ erkunden, andere hingegen beim Bahnhofsteam Kaffee und Kuchen bestellen. Kinderstimmen erklingen von einem Spielplatz herüber, ein großes Backhaus glänzt in der Sonne und historische Waggons erinnern an die Zeit der Züge. Nicht zu vergessen die Sandstein­madonna, die über allem wacht und zu den vielen Fahrrädern auf der „RadBahn Münsterland“ hinübergrüßt, dem Zweiradweg auf der ehemaligen Bahntrasse zwischen Coesfeld und Rheine. Ganz klar, die bunte Szenerie wäre undenkbar ohne tatkräftige Heimathelfer, wie man sie in Rosendahl nennt, darunter Rolf van Deenen, Maria Ueding, Bernhard Schmeken und viele andere. Ihr gemeinsamer Einsatz wurde schon mehrfach öffentlich gewürdigt, etwa beim Engagementpreis NRW 2015.

Der Bahnhof als Stadt

Rund siebenhundert Bahnhöfe gibt es heute in NRW, die stillgelegten nicht mitgerechnet. Der Schriftsteller Heinrich Böll glaubte nach eigener Auskunft als Kind sogar, dass die Stadt Wuppertal ausschließlich aus Bahnhöfen bestehe – logischerweise, um die Lokführer in der Kunst des Anfahrens und Bremsens zu trainieren. Erwachsene müssen sich demgegenüber mit der nüchternen Information begnügen, dass Wuppertal seine vielen aktiven (und ehemals aktiven) Bahnhöfe eigentlich nur geerbt hat, entstand es doch erst 1929 aus dem Zusammenschluss mehrerer Städte und Orte, darunter Elberfeld und Barmen. Außerdem gab es im Tal der Wupper einen starken Wettbewerb zwischen den Eisenbahngesellschaften, namentlich der Bergisch- Märkischen – Betreiberin der Strecke Elberfeld-Dortmund – und der Rheinischen, die in den 1870er Jahren die sogenannte Wuppertaler Nordbahn baute.

Zu dieser Nordbahn, die seit 1991 in weiten Teilen stillliegt, gehörte ursprünglich auch der Mirker Bahnhof. Er entstand 1879 mitten auf der grünen Wiese, die Stadt Elberfeld hat ihn erst nach und nach umschlossen, bis er im 21. Jahrhundert selbst zur Stadt wurde – zur „Utopiastadt“, um genau zu sein. Denn unter diesem Label kooperieren heute rund zweihundert Ehrenamtliche, die das denkmalgeschützte Stationsgebäude sanieren und als Zentrum für urbane Initiativen nutzen. Der Bahnhof als Stadt, ganz falsch lag der kleine Heinrich Böll am Ende also doch nicht. Im Übrigen dient auch die ehemalige Nordbahntrasse heute als Fahrradstrecke. Die vielfach preisgekrönte Utopiastadt bietet passend dazu einen kostenlosen Radverleih, einen Reparaturservice und eine Gaststätte für Pedalpausen.

Hützemert im Dräulzer Land

Hützemert? Dräulzer Land? Wer an dieser Stelle bloß Bahnhof versteht, kennt weder die sauerländische Stadt Drolshagen noch das Drolshagener – alias Dräulzer – Land. Trotzdem ist Bahnhof das richtige Stichwort, denn das 1902 errichtete Stationsgebäude im Stadtteil Hützemert – heute das letzte Bahngebäude auf Drolshagener Gebiet – hat ebenfalls die Weichen in Richtung Zukunft gestellt. 2014 konnte es mithilfe der NRW-Stiftung von der Dorfgemeinschaft zu einem Haus für Begegnung und Kultur umgebaut werden, wobei mit der Integration eines Güterwaggons als stilgerechter Bühne ein besonderer Clou gelang. Darüber hinaus dient der Bahnhof als Pausenstation, pardon: Jausenstation für Radlerinnen und Radler, die ganz in der Nähe den Wegeringhauser Tunnel durchqueren, Nordrhein-Westfalens längsten Radwegtunnel. Echte NRW-Fans wissen: Man fährt im Rheinland hinein und kommt nach exakt 724 Metern in Westfalen wieder heraus. Natürlich funktioniert es umgekehrt ebenso, vom Sauerland Richtung Bergisches Land. Nur im Winterhalbjahr ist der Tunnel als Fledermausrefugium geschlossen.

Der Wegeringhauser Tunnel gehört zum Bergischen Panorama-Radweg, der hier auf der Trasse der ehemaligen Aggertalbahn verläuft. Diese von Siegburg nach Olpe führende, 1903 vollendete Strecke unterstand einst der Königlichen Eisenbahndirektion Elberfeld, denn Preußen hatte in den 1880er Jahren damit begonnen, den Schienenverkehr zu verstaatlichen. Die Blütezeit der privaten, wenngleich öffentlich beaufsichtigten Eisenbahngesellschaften war damit vorbei. Stattdessen brach die Ära der „Preußischen Staatseisenbahnen“ an. Sie gingen später in der Deutschen Reichsbahn auf, der Vorläuferin von Bundesbahn und Deutscher Bahn AG. Eine Kette großer Namen und großer Institutionen – und doch können am Ende oft nur lokale Initiativen dafür sorgen, dass wertvolle alte Bahnhöfe den Anschluss nicht verlieren.

Text: Ralf J. Günther

Der Bio-Bahnhof

Die gut 120 Jahre alte Schienenstrecke Düren-Heimbach, bekannt auch als Rurtalbahn (ohne „h“), wurde Anfang der 1990er Jahre durch die Dürener Kreisbahn für eine symbolische Mark von der Bundesbahn erworben. Der Fahrbetrieb war damit gesichert, die Umwandlung von Bahnhöfen zu Haltepunkten fand aber auch hier statt. Umso erfreulicher, dass das Stationsgebäude Nideggen-Brück als „Bio-Station“ schon 1997 buchstäblich zu neuem Leben erwachte. Die Biologische Station für den Kreis Düren nutzt es als Hauptquartier und zeigt im direkt angrenzenden Güterschuppen die barrierefreie Ausstellung „Rur und Fels“ – unter anderem über Buntsandsteinfelsen und Biber im Rurtal. 2022 feierte der Biobahnhof sein 25., die von der NRW-Stiftung geförderte Ausstellung ihr 20. Jubiläum.

Blickpunkt

An sieben verschiedenen Orten in Nordrhein-Westfalen konnte die NRW-Stiftung bislang die Umnutzung denkmalgeschützter und stillgelegter Bahnhofsgebäude zu Kulturzentren, Bildungsstätten, Treffpunkten und Museen unterstützen. Dies ist jedoch nur ein kleiner Teil der vielen, über das ganze Land verteilten Förderprojekte, die insgesamt im Zusammenhang mit der rheinisch-westfälischen Eisenbahngeschichte stehen.