Ray – das klingt nicht unbedingt wie ein typisch niederrheinischer Name. Oder etwa doch? Nun, zumindest ist „ray“ ein Namensbestandteil mancher niederrheinischer Orte. Er verrät, dass deren Anfänge tief im Mittelalter zu suchen sind. So wie im Falle von Haus Ingenray, einem ehemaligen Adelssitz, in dem sich heute das „Zentrum für geldrische Geschichte“ befindet. Die letzten Privatbewohner des Hauses, die Eheleute Emilie und Hans Stratmans, hatten verfügt, dass es nach ihrem Tod auf eine nach ihnen benannte Stiftung übergehen sollte. Die Treuhandschaft übernahm der „Historische Verein für Geldern und Umgegend“. Die NRW-Stiftung unterstützte den Umbau des Anwesens zur öffentlich zugänglichen Archiv-, Museums- und Tagungsstätte.
Viele Orte in Deutschland verraten durch ihre Namen, dass sie im hohen oder späteren Mittelalter ursprünglich auf Rodungsflächen angelegt wurden. Man erkennt das an Endsilben wie etwa -rode, -rott oder -rath. Der Silbe „ray“ sieht man es auf den ersten Blick zwar nicht an, doch sie gehört mit in den Zusammenhang. Es handelt sich um eine sprachliche Variante, die so nur am Niederrhein sowie in den angrenzenden Niederlanden vorkommt. Begeben wir uns daher an die Niers, einen 113 Kilometer langen Fluss, der zum größten Teil in Deutschland verläuft, auf seinen letzten acht Kilometern aber ins Nachbarland wechselt und dort in die Maas mündet.
Bündnis für Geschichte
Zuvor: Es gibt an der Niers auch ein „Haus Ingenraedt“, bei dem die Rodungssilbe leichter zu erkennen ist. Man darf es nicht mit unserem Ingenray verwechseln, das zur Stadt Geldern, Ortsteil Pont, gehört. Ende des 14. Jahrhunderts taucht dieses Ingenray erstmals in den schriftlichen Quellen auf, es wurde damals vom Rentmeister des geldrischen Herzogs bewohnt. Die Mitte des 15. Jahrhunderts grundlegend umgebaute Anlage erlitt im Zweiten Weltkrieg starke Beschädigungen und diente danach zeitweilig als Standort eines Geflügelzuchtbetriebs. Beim Ankauf durch Hans Stratmans im Jahr 1962 befand sich der Komplex in einem Zustand, der den Bauunternehmer und seine Frau vor umfangreiche Sanierungsaufgaben stellte. Die beiden sammelten in ihrem neuen Zuhause zudem mit großer Leidenschaft alte Karten, Münzen, Bücher, Akten, Waffen und Gebrauchsgegenstände, überwiegend mit Bezug zum ehemaligen Herzogtum Geldern. Diese Sammlung, die nicht zuletzt zahlreiche Objekte zur Marienwallfahrt nach Kevelaer enthält, wurde zusammen mit der Gutsanlage in die „Emilie und Hans Stratmans Stiftung“ überführt.
Das Ehepaar Stratmans sammelte engagiert und kenntnisreich, zählte aber weder zu den Archiv- und Museumsprofis noch zu den Fachhistorikern. Der jetzige Direktor der nach ihnen benannten Stiftung, Dr. Matthias Schrör, bringt als ausgewiesener Mittelalterexperte hingegen die Qualifikation mit, um dem neuen Zentrum für geldrische Geschichte das unverzichtbare wissenschaftliche Fundament zu sichern. Hinzu kommt, dass der 1851 gegründete Historische Verein für Geldern einer der größten Geschichtsvereine in Deutschland ist. Im Rahmen eines „Bündnisses für Geschichte“ befasst er sich – zusammen mit der Uni Duisburg-Essen, der Akademie Niederrhein sowie verschiedenen Städten und Gemeinden – umfassend mit der Vergangenheit der Region. Er setzt dabei besonders auf Projekte mit Schülerinnen und Schülern und ebenso auf grenzübergreifende deutsch-niederländische Kooperationen.
Offener Anlaufpunkt
Um das seit 1985 unter Denkmalschutz stehende Ingenray, zu dem rund vier Hektar Land gehören, für seine neuen Aufgaben zu präparieren, mussten private Wohnflächen in Veranstaltungsräume verwandelt und die Technik für Tagungen, Vorträge, Filmabende, Konzerte oder Kleinkunst installiert werden. Außerdem waren Barrierefreiheit und Brandschutz zu gewährleisten. Für den Historischen Verein kam das Projekt zur rechten Zeit. Er hatte zuvor Haus Lawaczeck in Nieukerk als Begegnungsort genutzt, das 2001 ebenfalls mithilfe der NRW-Stiftung eingerichtet worden war. Nach Auslaufen des dortigen Pachtverhältnisses bietet nun Haus Ingenray einen attraktiven Anlaufpunkt für geldrische Kultur und Geschichte, der allen Interessierten offen steht.
Text: Ralf J. Günther
Das Kanalprojekt: Fossa Eugeniana
Es war ein spektakuläres Bauprojekt, das 1626 am Niederrhein begonnen wurde, obwohl, nein, weil die Zeiten kriegerisch waren. Spanien glaubte damals, seine abgefallenen niederländischen Provinzen durch eine künstliche Wasserstraße zwischen Rhein und Maas wirtschaftlich empfindlich schädigen zu können. Tatsächlich machten sich Tausende von Arbeitern daran, einen etwa vier Meter breiten Graben auszuheben, der von Rheinberg über Geldern nach Venlo führen sollte. Doch nur einzelne Abschnitte der „fossa“, sprich: des Kanals, der nach der damaligen spanischen Regentin in Brüssel, Isabella Clara Eugenia benannt wurde, ließen sich tatsächlich zeitweilig schiffbar machen. Vollendet wurde das Vorhaben nie, das gleichwohl bis heute Spuren in der Landschaft hinterlassen hat. Auf Haus Ingenray war 2022 eine Ausstellung über den gescheiterten Kanal zu sehen, parallel dazu erlebte hier ein von dem Niederländer Huub Duijf gedrehter Film zum Thema seine deutsche Uraufführung. Das Video steht inzwischen kostenlos online.
Blickpunkt
Die NRW-Stiftung stellte der „Emilie und Hans Stratmans-Stiftung“ Mittel für die Sanierung und den denkmalgerechten sowie barrierefreien Umbau von Haus Ingenray zur Verfügung. Der „Historische Verein für Geldern und Umgegend“ nutzt das Haus als öffentlich zugängliche Archiv-, Museums-, Begegnungs- und Tagungsstätte. Der Tagungsraum kann für Veranstaltungen auch gemietet werden.
www.hv-geldern.de/haus-ingenray