Eine Mauer, die es in sich hat

 

Stadtmauer Zons

Foto: Lars Langemeier

Alte Gemäuer sind nicht nur Zeugen vergangener Zeiten. Sie sind auch wertvolle Lebensräume, die bei Sanierungen häufig zerstört werden. In Zons am Niederrhein will man einen anderen Weg gehen und zeigen, dass Natur- und Denkmalschutz keine Gegensätze sind.

Mittelalter pur: Die niederrheinische Kleinstadt Zons ist weithin bekannt als eines der am besten erhaltenen mittelalterlichen Städtchen Deutschlands. Mehr als 700.000 Besucher lockt sie in jedem Jahr an den linken Niederrhein, um das Flair vergangener Zeiten zu genießen. Hauptattraktion ist die Befestigungsanlage mit ihrer komplett erhaltenen Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert. Die allerwenigsten Besucher und Besucherinnen, die staunend vor der ehemaligen Feste stehen, dürften aber ahnen, was das alte Gemäuer jenseits seiner beeindruckenden äußeren Erscheinung noch zu bieten hat. Denn dort, wo vor mehr als 600 Jahren Stein auf Stein geschichtet wurde, entstand nicht nur ein weithin sichtbares Symbol der Wehrhaftigkeit und des mittelalterlichen Wohlstands. Es entstanden auch zahlreiche auf den ersten Blick wenig ins Auge fallende Kleinlebensräume, in denen Tier- und Pflanzenarten unauffällig, aber in großer Vielfalt die Stürme der Zeit und die mit ihnen einhergehenden Veränderungen unbeschadet überstehen konnten.

Unerwartete Schätze in Ritzen und Spalten

Der Landschaftsökologe Thomas Braun hat als Mitarbeiter der Biologischen Station im Rhein-Kreis Neuss mit Unterstützung zahlreicher weiterer Experten die Flora und Fauna auf einem zur Sanierung anstehenden Abschnitt der Innenmauer untersucht. Fünfzig Meter Mauer, die es buchstäblich in sich haben, wie sich dabei zeigen sollte: „Die Zonser Mauern sind voller Leben und ein sehr wertvoller Lebensraum für hochspezialisierte Pflanzen- und Tierarten“, fasst Braun die Ergebnisse in Kurzform zusammen: Andernorts selten gewordene oder bereits ganz verschwundene Pflanzengesellschaften sowie jeweils fast 30 Moos- und Schneckenarten fanden die Experten. „Artenvielfalt besteht eben nicht nur aus Bienen“, sagt Braun mit Blick auf die eher unscheinbaren Bewohner der Mauer.

Über einige besondere Entdeckungen staunten selbst die Fachleute. So konnten sie das Zwiebel-Rispengras wiederentdecken, das hier eigentlich schon seit über 100 Jahren als verschollen galt. Bei den Schnecken erlebten die Gutachter eine ähnliche Überraschung, als sie Exemplare von Balea perversa fanden, der Zahnlosen Schließmundschnecke. Auch sie war seit vielen Jahrzehnten nicht mehr in der Region gesichtet worden. Mit dem Zarten Kleinschnabeldeckelmoos und dem Unscheinbaren Scheindeckelmoos wurden sogar zwei Moosarten nachgewiesen, die für den Niederrhein bereits als ausgestorben galten.

Es sind gerade die Stellen der Mauer, die bei einer konventionellen Sanierung sofort als „Problemstellen“ ausgemacht und rasch überspachtelt würden: geplatzte Fugen, Risse und Spalten, die der Zahn der Zeit in das alte Mauerwerk geknabbert hat. Dort, wo die Stadtmauer bereits in den vergangenen Jahrzehnten ausgebessert wurde, finden sich kaum noch Lebensräume für Tiere und Pflanzen. „Alles wegsaniert, das könnte auch ein Neubau sein“, beklagt der Ökologe.

Denkmal- und Naturschutz Hand in Hand

Das soll sich bei der anstehenden Sanierung des rund 50 Meter langen Abschnitts der Westmauer nicht wiederholen – da sind sich alle einig: Denkmalschutz, Stadt, Landschaftsverband Rheinland und Naturschutz wollen an einem Strang ziehen. „Denkmalgerecht und naturverträglich, das müssen keine Gegensätze sein“, ist sich Braun sicher. Sein Gutachten soll die fachliche Grundlage für eine naturgerechte Sanierung der historischen Stadtmauer legen, an deren Kosten sich auch die NRW-Stiftung beteiligt. Geplant ist beispielsweise, schadhafte Stellen schonend auszubessern – und dabei nicht Betonmörtel, sondern historischen Kalkmörtel wie im Mittelalter einzusetzen. Dort, wo das Abtragen alter Gesteinsschichten von Sims oder Mauer unerlässlich sind, wollen die Naturschützer wenigstens Samen der Gräser sichern und die Gesteinsreste einsammeln – „damit sich die seltenen Schnecken nicht zusammen mit Bauschutt auf der Deponie wiederfinden“. Saniert werden soll zudem nur das Nötigste, und ein Abschnitt soll ganz im heutigen Zustand belassen und mit Drahtmatten – ähnlich wie an Straßenböschungen - gesichert werden. Dort sollen dann nicht nur die eingesammelten Schnecken ein neues Zuhause finden. Geplant ist auch ein Infopunkt für Besucher, damit ihnen die heimlichen Schätze der Zonser Stadtmauer nicht länger verborgen bleiben.

„Zons kann zum Vorbild für einen naturverträglichen Denkmalschutz werden“, glauben Braun und seine Mitstreiter. Besucherinnen und Besucher können sich schon bei einem Abstecher zum Zonser Weihnachtsmarkt einen eigenen Eindruck verschaffen. Ende November sollen die Sanierungsarbeiten abgeschlossen sein.

Text: Thomas Krumenacker

 

Blickpunkt

Denkmalschutz und der Erhalt wertvoller Lebensräume müssen keine Gegensätze sein: Das will das von der NRW-Stiftung geförderte Projekt einer nachhaltigen Sanierung eines 50 Meter langen Abschnitts der Stadtmauer von Zons am Niederrhein beweisen. In Zusammenarbeit von Stadt, Landschaftsverband, Heimat- und Denkmalpflege sowie dem Naturschutz wird der mittelalterliche Mauerabschnitt restauriert, ohne die erstaunliche Vielfalt an Biodiversität unwiederbringlich zu zerstören.