Mehr als hundert Läden und Fachgeschäfte jüdischer Inhaber gab es einst in Bochum. Auch das große Kaufhaus Kortum zählte dazu, ein architektonisches Wahrzeichen der Stadt, das durch die TV-Serie „Der große Bellheim“ deutschlandweit bekannt wurde, kurioserweise allerdings als Verkörperung eines fiktiven Warenhauses in Hannover. Dass das Kortumhaus vor der „Arisierung“ durch die Nazis nach seinen jüdischen Eigentümern Kaufhaus Alsberg hieß, gehört mit zu den Themen auf dem Bochumer Stelenweg zur jüdischen Geschichte, der Informationen an authentischen Standorten mit vielfältigen medialen Angeboten verknüpft.
Wo die Spuren der Vergangenheit zu verblassen drohen, gilt es den Blick der Menschen durch Information umso mehr zu schärfen. Nach diesem Prinzip verfährt der Bochumer Stelenweg, der bislang elf Stationen umfasst, finanziert überwiegend durch bürgerschaftliche Spenden. Drei weitere Infopunkte, die mithilfe der NRW-Stiftung entwickelt wurden, komplettieren das Angebot. Da die Geschichte des jüdischen Lebens in Bochum insgesamt rund vierhundert Jahre umfasst, ist die Themenvielfalt des Weges sehr groß, der Bogen spannt sich von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert und wirft dabei Schlaglichter auf Musik, Sport, Religion, Schulen, Integration und auf die Biographien zahlreicher Menschen.
Zwei Leben für die Musik
Um hier beispielhaft die Musik herauszugreifen, müssen wir uns zum Erich-Mendel-Platz begeben, wo zunächst die 2007 erbaute Synagoge ins Auge fällt, die notwendig wurde, nachdem die „Jüdische Gemeinde Bochum, Herne und Hattingen“ in den 1990er Jahren durch Zuzug aus der ehemaligen Sowjetunion stark angewachsen war. Doch der Mann, nach dem der Platz benannt ist, verdient nicht weniger Aufmerksamkeit: Erich Mendel, 1922 als Kantor nach Bochum berufen, war ein herausragender Kenner und Erforscher der Synagogenmusik. Zweimal in seinem Leben baute er zu diesem Thema eine große Sammlung auf. Die erste ging nach seiner 1939 von den Nazis erzwungenen Auswanderung verloren. Die zweite entstand in den USA, wo Eric Mandell, wie er sich jetzt schrieb, zum Begründer der bedeutenden Mandell-Collection in Philadelphia wurde. „Das Lebenswerk von Erich Mendel/Eric Mandell ist Brücke zur Vergangenheit und Quelle für die Zukunft jüdischer Musik“ heißt es auf der ihm gewidmeten Stele.
Der Stelenweg ist ein Projekt der Evangelischen Stadtakademie Bochum, deren ehemaliger Leiter Dr. Manfred Keller schon vor über zwanzig Jahren Überlegungen zu dem Vorhaben vortrug. In der von der Akademie eingesetzten „Arbeitsgruppe Stelenweg“ ist Keller unter anderem zusammen mit Dr. Michael Rosenkranz aktiv, dem Vorsitzenden des Gemeinderates der Jüdischen Gemeinde. Die AG legte von Anfang an Gewicht auf die Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern. Mit Erfolg: Geschichtskurse verschiedener Bochumer Schulen haben sich an der Erarbeitung einzelner Stelen mit Recherchen und Gestaltungsvorschlägen beteiligt.
Buch und Biparcours
Wem es nicht behagt, stehend Informationstafeln zu studieren, der kann die Bochumer Erkundungen durchaus auch im Sessel absolvieren – ein von Manfred Keller verfasstes Buch, für das eine erweiterte Neuauflage bereits geplant ist, macht es möglich. Und wer lieber am Bildschirm sitzt, der findet sämtliche Tafeln nebst ergänzenden Texten und Videos auf der Webseite der Stadtakademie. Dass sich gerade junge Menschen umgekehrt via Display an die tatsächlichen Schauplätze des Geschehens locken lassen, zeigt hingegen die Smartphone-App Biparcours. Der Name steht für Bildungsparcours, denn es handelt sich um ein Angebot der „Bildungspartner NRW“, einer Kooperation des Landes mit den Landschaftsverbänden. Mit der App lassen sich GPS-gestützte Themenrallyes gestalten und durch Quizelemente, Videos, Animationen etc. anreichern. Schülerinnen und Schüler der Bochumer Hildegardis-Schule haben einen Biparcours für den Stelenweg kreiert und per Podcast darüber berichtet. Seit 2022 existiert darüber hinaus ein „Actionbound“, entwickelt vom Evangelischen Kinder- und Jugendreferat und von der Stadtakademie. Auch dabei handelt es sich um eine Erkundungsrallye, die auf ein mehrfach preisgekröntes Tool zur Gestaltung von digitalen Schatzsuchen und Schnitzeljagden zurückgreift.
Text: Ralf J. Günther
Der Bochumer Löwe von Juda
Das von der Grafikerin Renate Lintfert für die Stelen entworfene Layout folgt einem einheitlichen Muster mit Bild-, Zeitleisten- und Textspalten auf der Vorderseite. In der oberen rechten Ecke befindet sich dabei jeweils der „Löwe von Juda“. Es handelt sich um ein Detail aus einem Bronzerelief, das in der Alten Synagoge ab 1928 an die jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs erinnerte. In der Pogromnacht zehn Jahre später konnte dieses Relief rechtzeitig abgenommen werden. Es gelangte später getarnt unter einem Akkordeon nach Toronto in Kanada. 2001 erhielt die Stadt Bochum eine Kopie, die heute in der Eingangshalle der neuen Synagoge einen Ehrenplatz einnimmt. Der Löwe ist das Symboltier des Stammes Juda. In der Bibel bezeichnet Stammvater Jakob seinen Sohn Juda als jungen Löwen.
Blickpunkt
Drei Stationen des Stelenwegs wurden auf Antrag der Evangelischen Stadtakademie Bochum von der NRW-Stiftung gefördert. Eine davon wird am Stadtpark stehen und an Philipp Würzburger (1812—1877) erinnern, einst Vorsitzender der Synagogengemeinde und stellvertretender Bürgermeister in Bochum, dem der Park maßgeblich mit zu verdanken ist. Die beiden anderen Stelen widmen sich dem jüdischen Leben in Linden und Wattenscheid. Linden gehört schon seit 1929 zu Bochum, Wattenscheid bildet seit 1975 den Bochumer Stadtbezirk 2. Die NRW-Stiftung hilft außerdem bei der Neuherausgabe des Stelenweg-Buches von Manfred Keller.
www.stadtakademie.de/stelenweg/informationen