Immer häufiger übernehmen Schafe, Ziegen, Pferde und Rinder die Rolle der Landschaftsgärtner in großen Schutzgebieten. Diese Zuchtrassen ersetzen die ökologischen Funktionen längst ausgestorbener Arten, die über Jahrtausende hinweg die Umwelt prägten. Mit den domestizierten Nachfahren von Auerochse, Wildpferd und Co. kehrt eine erstaunliche Artenvielfalt in die Landschaft zurück.
Ein Spaziergang durch eines der weitläufigen Schutzgebiete Nordrhein-Westfalens bietet heute wieder zahlreiche Begegnungen mit den Schätzen der heimischen Natur: Seltene Vögel, Schmetterlinge und Orchideen lassen sich entdecken. Seit einigen Jahren durchstreifen immer häufiger aber auch Tiere die Landschaft, die auf den ersten Blick wenig mit Wildnis zu tun haben. Neben Ziegen und Schafen sind auch Rinder und Pferde mittlerweile ein vertrauter Anblick in Heiden, Auen und sogar Wäldern in NRW – und das aus gutem Grund. Denn die tierischen Landschaftspfleger können weitaus mehr als nur den Bewuchs kleinhalten. Buchstäblich auf Schritt und Tritt bringen die vermeintlichen Haustiere wilde Natur in die vom Menschen gezeichnete Landschaft zurück. Wie schnell sich ein Gebiet mithilfe der domestizierten Nachfahren von Auerochse, Wildpferd & Co. in ein nahezu natürliches Ökosystem verwandelt, lässt sich in Ostwestfalen bestaunen. Bereits vor über 30 Jahren begannen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Biologischen Station Soest in der Klostermersch westlich von Lippstadt, Rinder und später Pferde zur Unterstützung bei der Renaturierung der Lippe einzusetzen.
Ökologische Traumlandschaft geschaffen von Weidetieren
Heute prägen neben der Wasserdynamik des renaturierten Flusses vor allem die Weidetiere das Landschaftsbild: Kurz gewachsene, durch beständiges Grasen dicht gehaltene Flächen wechseln sich ab mit Hochstaudenfluren aus Disteln, Brennnesseln oder Karden. Dazwischen liegen buschige Inseln, auf denen sich stachelbewehrte Sträucher wie Schlehen, Rosen oder Weißdorn gegen die knabbernden Weidetiere behaupten und in die Höhe wachsen konnten. Die dabei entstandenen Hecken wirken so harmonisch geformt, als hätte ein menschlicher Landschafts-gärtner Hand angelegt. Einzeln stehende alte Bäume und kleine Baumgruppen ergänzen das abwechslungsreiche Mosaik der Aue: Eine ökologische Traumlandschaft, geschaffen und erhalten durch Weidetiere.
„Beweidung bringt Vielfalt und Unordnung in eine Kulturlandschaft – genau das, was die Natur braucht“, sagt Margret Bunzel-Drüke von der Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz im Kreis Soest (ABU). Die Biologin betreut das Projekt seit seinen Anfängen. Für sie sind Rinder und Pferde die eindrucksvollsten Landschaftsarchitekten. „Als Grasfresser gestalten sie die Landschaft auf eine sanfte und nachhaltige Weise besonders schön“, schwärmt sie. Mit der extensiven Beweidung kehrten auch viele Tiere in die Lippeaue zurück, berichtet Bunzel-Drüke. Besonders beeindruckend verlief das Comeback des Neuntöters, der in den 1990er Jahren bereits verschwunden war. Heute gibt es wieder mehr als 30 Brutpaare dieser auf Käfer und andere Großinsekten spezialisierten Vögel im Gebiet. Kein Zufall: Durch die Beweidung entstand eine Landschaft voller Insekten und mit dichten Hecken. Die einen braucht der Vogel zum Fressen, die anderen zum geschützten Brüten.
Fressen, Trampeln, Wälzen: So schaffen Weidetiere Lebensräume
So wie für den Neuntöter schaffen Weidetiere mit jeder ihrer Verhaltensweisen Lebensraum für ungezählte andere Tier- und Pflanzenarten. Ganz wie ihre wilden Vorfahren – Auerochse, Wildpferd oder Wisent –, die über Jahrtausende das Landschaftsbild prägten und das Ökosystem formten: Sie fressen, trampeln und wälzen sich. So entstehen Löcher im geschlossenen Boden, in denen sich Wasser sammelt und Lebensraum für Insekten und Amphibien entsteht. Sie halten die Vegetation kurz und lassen damit Licht an Stellen, die sonst schattig blieben. Und sie setzen Unmengen von Kot ab, eine der wichtigsten Ressourcen im Naturkreislauf: Darüber verteilen die Tiere Samen über große Distanzen und fördern die Vermehrung von Pflanzen. Sie bringen mit dem Dung nahrhaften Stickstoff in die Erde und fördern so das Pflanzenwachstum und eine große Vielfalt an Würmern und Käfern – von denen wiederum Vögel und Fledermäuse leben.
Während in der Lippeaue die Beweidung als Turbo für die Renaturierung eingesetzt wird, tragen andernorts in NRW Schafe, Ziegen, Rinder oder Pferde dazu bei, den Charakter einer über lange Zeiträume hinweg entstandenen Kulturlandschaft zu erhalten. Zum Beispiel im Brachter Wald im Niederrhein-Kreis Viersen. „Ohne Beweidung könnten wir viele unserer Lebensräume nicht erhalten“, sagt Gebietsbetreuer Peter Kolshorn von der Biologischen Station Krickenbecker Seen.
Im Brachter Wald sind die von lichten Wäldern gesäumten großräumigen Heidelandschaften das Ergebnis einer jahrhundertelangen Nutzung durch Menschen und ihre Weidetiere. Erst die Beweidung mit großen Schafherden schuf eine baumarme Offenlandschaft, in der sich über lange Zeiträume hinweg auf trockenen Flugsandböden eine Heide entwickelte. Im Brachter Wald hat wie auf vielen früheren Truppenübungsplätzen auch militärischer Betrieb früher dazu beigetragen, den Heidecharakter zu bewahren. Heute erledigt eine Armada aus Weidetieren diese Aufgabe. Moorschnucken, Ziegen, Galloway-Rinder und Konik-Pferde halten die Heide mit ihrem unersättlichen Appetit offen. Wie ihre wilden Vorfahren sind auch die domestizierten Weiderassen an unterschiedliche ökologische Nischen angepasst. Entsprechend überlegt müsse ihr Einsatz als Landschaftspfleger erfolgen, sagt Kolshorn. Die ursprünglich aus Südeuropa stammenden Ziegen etwa seien am effektivsten beim Zurückdrängen von Gehölzen, weil sie auch dichte Vegetation durchdringen könnten. Sie seien die beste Wahl, wenn es darum gehe, die Verbuschung der Heide oder des Magergrünlands durch Zitterpappeln zu verhindern. Die Moorschnucken dagegen fressen das Gras zwischen den Heidesträuchern und verhindern ein Überwachsen auch der seltenen Grauheide, die im Brachter Wald ihr einziges Vorkommen in Deutschland hat. Schafe seien sogar eine Art Wunderwaffe gegen den auch für Menschen sehr unangenehmen Riesenbärenklau, den sie schadlos besonders gerne fressen. Wie an der Lippe werden auch am Niederrhein die auf Gräser spezialisierten Pferde und Rinder als besonders effektive Lebensraum-Gestalter hochgeschätzt. „Jede der Arten ist ein Spezialist für eine bestimmte Nische – und alle zusammen ergänzen sich“, sagt Kolshorn.
Trotz langjähriger Erfahrung staunen Naturschützer wie Kolshorn und Bunzel-Drüke bis heute über die Effektivität der vierbeinigen Rasenmäher. Beweidung sei eine der wichtigsten Maßnahmen überhaupt im Naturschutz, sind sie sich einig. „Weidetiere schaffen Biodiversität in Rekordzeit“, sagt Kolshorn. „Je mehr neue Strukturen durch die Tiere entstehen, desto mehr Nischen für neue Arten gibt es“. Ein besonders spektakulärer Beweis für diese These findet sich ebenfalls im Brachter Wald – in Form eines hübschen weißlichen Pilzes, dessen flacher Schirm löchrig aussieht wie eine in der Pfanne schmorende Scheibe Käse: Die Punktierte Porenscheibe ist eine große Seltenheit und war hier wie in vielen anderen Regionen bereits ausgestorben. Doch ein durch die Konik-Pferde geschaffener neuer Lebensraum brachte die bedrohte Art zurück. Der Pilz gedeiht – wie 40 andere hoch spezialisierte Pilzarten – heute wieder prächtig überall dort, wo die Koniks ihre Hinterlassenschaften absetzen: auf dem Dung der Pferde.
Text: Thomas Krumenacker
Blickpunkt
Die NRW-Stiftung ist seit ihrer Gründung vom Konzept der naturnahen Beweidung mit verschiedensten Nutztierrassen überzeugt und unterstützt zahlreiche Projekte in diesem Bereich.
Ob auf dem Marsberg im Hochsauerland, in der Drover Heide in der Rureifel oder in den ostwestfälischen Lippeauen bei Soest: In allen Landesteilen grasen, weiden und knabbern Schafe, Rinder, Ziegen und Pferde mit unserer Unterstützung für den Naturschutz. Auf diese Weise wurden bereits zahlreiche Offenlandschaften wiederhergestellt bzw. bleiben als ökologische und ästhetische Schätze ganzer Landstriche erhalten.