Vögel als Wegbereiter des Naturschutzes

 

Reihe: Aus dem Archiv der Naturschutzgeschichte

Foto: Stiftung Naturschutzgeschichte

Schon zum Ende des 19. Jahrhunderts setzten die Pioniere des Naturschutzes auf die besondere emotionale Verbindung vieler Menschen zu Vögeln, um ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen. Und sie erkannten die Macht objektiver Datenerhebungen. Im Archiv der Stiftung Naturschutzgeschichte in Königswinter finden sich erstaunlich aktuell anmutende Zeugnisse für die Rolle von Vögeln als gefiederte Botschafter des Umweltschutzes.

Als die US-Autorin Rachel Carson in den 1960er Jahren mit „Der stumme Frühling“ ihre düstere Warnung vor einer Welt ohne Vögel veröffentlichte, landete die Biologin nicht nur einen literarischen Welterfolg. Das Erscheinen des unter dem Eindruck der verheerenden Wirkung des Pestizids DDT entstandenen Buchs gilt bis heute auch als Geburtsstunde der internationalen Umweltschutzbewegung. Nach und nach wurde danach das todbringende Gift zuerst in den USA und dann auch in Europa und auf anderen Kontinenten verboten. Die bescheidene Naturwissenschaftlerin Carson stieg zur Ikone des erfolgreichen Kampfes gegen das Artensterben auf. Viel weniger bekannt: Schon mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor war es ebenfalls eine Frau, die in Deutschland mit einer ganz ähnlichen Warnung dem Naturschutzgedanken zum Durchbruch verhalf.

Lina Hähnle, charismatische Politikergattin und engagierte Vogelschützerin, rief 1899 den Bund für Vogelschutz (BfV) ins Leben. 15 Jahre später hatte der Verband schon mehr als 40.000 Mitglieder.

Wie Carson Jahrzehnte später nutzte auch Hähnle die emotionale Wirkung des Vogelgesangs, um Menschen für das weitaus komplexere Anliegen der Bewahrung von Natur in Zeiten ungezügelter Industrialisierung in Städten ebenso wie in der Landwirtschaft zu gewinnen. „Was wäre der Wald ohne Finkenschlag, das Feld ohne Lerchengesang, die blühenden Hecken ohne die Grasmücken! Und wahrlich, wenn wir uns nicht bald rühren, dann verstummt bei uns der Nachtigall süßes Lied für ewig“, hieß es schon 1904 in einem Flugblatt von Hähnles BfV – aus dem später der heutige Naturschutzbund NABU hervorging. Das zeitgeschichtliche Dokument mit dem aufrüttelnden Titel „An Alle und Jeden!“, findet sich im Archiv der Stiftung Naturschutzgeschichte in Königswinter.

Auch bei konkreten Vogelschutzaktionen setzten die frühen Aktivistinnen und Aktivisten gezielt auf Mobilisierung der Öffentlichkeit durch das Wecken von Emotionen. Einen ihrer ersten großen Erfolge verbuchte die aufkommende Vogelschutzbewegung auf der Speisekarte: Im ausgehenden 19. Jahrhundert gelang es den Aktivisten, den bis dahin weit verbreiteten Fang und Verzehr von Singvögeln innerhalb von wenigen Jahrzehnten von einer normalen Gewohnheit in ein gesellschaftliches Tabu zu verwandeln – und damit Millionen von Vögeln in den folgenden Generationen das Überleben zu sichern.

Argumentative Schützenhilfe für die weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen hin zu mehr Naturschutz lieferten bereits im 19. Jahrhundert von Vogelschützern gesammelte Daten zu den Bestandstrends der einzelnen Vogelarten – eine weitere Parallele zu heute. Die akribischen Erhebungen der frühen Naturschützer, aus denen auch die ersten Roten Listen gefährdeter Tierarten hervorgingen, würde man heute wohl als „Citizen Science“ bezeichnen, als Bürgerwissenschaft.

Heute diskutieren wir die Reduzierung von Fleisch als Beitrag zum Klimaschutz - vor mehr als 100 Jahren setzten Naturschützer ihn im Namen des Vogelschutzes durch! Sinnbildlich für diesen spektakulären gesellschaftlichen Einstellungswandel stehen bis heute die „Leipziger Lerchen“: Nachdem in den 1870er Jahren in der Region Leipzig der Fang der Feldvögel nach dramatischen Bestandseinbrüchen auf Druck der Naturschützer verboten wurde, sattelten die Bäckereien um. „Leipziger Lerchen“ gibt es deshalb bis heute – allerdings nicht mehr als Vogelpastete, sondern in Pastetenform aus Mürbeteig mit Marzipan und Marmelade bereitet.

Text: Thomas Krumenacker